Ein Königssohn wollte heiraten und wusste nicht, wo er sich „den Kopf anschlagen" sollte. Man hatte ihm gesagt, dass in einer Höhle eine Hexe wohne und zu ihr ging er, um sich Rat zu holen.
Die Hexe sagte ihm: „Nimm mit dir eine grosse Flasche Öl, einen Sack voll Knochen, einen Sack voll Fischgräten und ein Bündel Seile. Dann gehe auf den Gipfel des Berges Pianpuzza, wo du ein schönes Schloss finden wirst. Die Türen werden geschlossen sein mit schweren Ketten. Du musst sie mit Öl schmieren und sie werden sich öffnen. Wenn du in den Hof eintrittst, wirst du hundert Hunde finden, die dich zerreissen wollen. Du wirst ihnen die Knochen hinwerfen und sie werden dich vorübergehen lassen. Dann werden hundert Katzen kommen dich zu kratzen. Du leerst den Sack voll Fischgräten aus und die Katzen werden sich beruhigen. Auf den Treppen werden hundert Diener stehen, die mit ihren langen Haaren das Wasser aus dem Ziehbrunnen ziehen. Du gibst ihnen hierfür die Seile und wirst vorübergehen. Am Ende der Treppe wirst du einen prächtigen Saal finden und auf dem Kamin siehst du drei Orangen liegen. Nimm eine von ihnen, gehe in den Wald und zerreisse sie."
Der Jüngling kehrte zum Königsschloss und zu seinem Vater zurück. Er nahm eine Flasche Öl, ein Bündel Seile, einen Sack Knochen und einen Sack Fischgräten und begab sich zum Berg Pianpuzza. Und er lief und stieg auf und kletterte. Die Flasche, die Seile und die Säcke waren schwer, aber zuletzt erreichte er den Gipfel des Berges und fand den verzauberten Palast. Er schmierte mit Öl die schweren Ketten und die Türen öffneten sich. Die Hunde liefen auf ihn zu und zeigten ihm die Zähne. Da warf er die Knochen hin, sie stürzten sich darauf und er konnte vorbeigehen. Die Katzen näherten sich mit ausgestreckten Krallen. Er warf ihnen die Fischreste hin. Da vergassen sie ihn darüber und er konnte weitergehen. Nun fand er auf der Treppe die hundert Diener, die mit ihren Haaren Wasser aus dem Brunnen zogen. Da schenkte er ihnen die Seile, und sie waren zufrieden. Als er am Ende der Treppe anlangte, trat er in einen Saal, der war ganz vergoldet. Er sah auf dem Kamin die drei Orangen, nahm eine davon und lief weg.
Als er im Wald ankam, zerteilte er die Orange und es erschien ein schönes Mädchen in gelbem Kleid. Der Königssohn war sehr froh und sagte: „Du sollst meine Frau sein.“
„Ja", antwortete das Mädchen, „aber hast du schöne Kleider für mich, kostbare Juwelen, goldene Schuhe?"
„Nein", antwortete der Prinz, „die habe ich nicht."
Da verschwand die Schöne.
Der arme Jüngling kehrte sehr betrübt nach Hause zurück, nahm aufs Neue eine Flasche voll Öl, ein Bündel Stricke und Säcke voll Knochen und Fischgräten und nun begann er wieder den Aufstieg zum Berge Pianpuzza. Er stieg und stieg, kam ans Schloss, schmierte die Ketten und trat ein, warf Knochen und Fischgräten, erreichte die Treppe, verschenkte die Stricke und konnte in den Saal eintreten. Auf dem Kamin lagen noch zwei Orangen. Er nahm eine und lief schnell die Treppe hinunter. Im Wald zerriss er die Orange und vor ihm erschien ein schönes Mädchen in Rot gekleidet und fragte: „Was willst du?"
„Ich will dich heiraten; ich will dich in Gold und Perlen kleiden und du wirst meine Königin sein."
„Aber wo sind die schönen Kleider? Wo sind die Juwelen? Wo ist das Königreich?" Und sie verschwand vor ihm wie Nebel vor der Sonne.
Der arme Königsohn war geradezu verzweifelt, lief nach Haus und nahm wieder Oel, Knochen, Gräten und Seile, ging zum Schloss des Zauberers, stieg die Treppen und trat in den goldenen Saal. Auf dem Kamin fand er die letzte Orange und so ungeduldig war er, dass er sie sofort öffnete. Und heraus kam eine wunderschöne Jungfrau in weissem Kleid. Sie umarmte ihn und sagte: „Du bist mein Retter, dieser Palast ist dein, denn du hast den Zauber gebrochen und ich will deine Frau sein."
Da hörte man in der Tiefe einen grossen Lärm. Das war der sterbende Zauberer, der die Diener schalt, weil sie den Eindringling durchgelassen hatten. Aber die Diener sagten: „Ihr verlangtet, dass wir das Wasser an unseren Haaren heraufziehen und er gab uns Seile."
„Und ihr Katzen", schrie er, „warum habt ihr ihn nicht gekratzt? Und ihr Hunde, warum habt ihr ihn nicht in Stücke gerissen?"
„Du", antworteten sie, „liessest uns Hunger leiden und er gab uns zu essen."
„Und ihr Ketten, warum habt ihr euch geöffnet?"
„Du liessest uns verrosten und er hat uns geschmiert."
„Oh ich Armer, oh ich Armer", jammerte der Zauberer, und er starb.
Aber die hundert Diener bereiteten dem glücklichen Paar ein Hochzeitsmahl.
Quelle: L. Clerici, Helene Christaller (Übers.), Märchen vom Lago Maggiore.
Nach mündlicher Überlieferung gesammelt von Luigi Clerici, Basel o. J.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch; typografisch leicht angepasst.