In einer nebligen Oktobernacht pochte es ungestüm an die verschlossene Haustür: «Einsiedler! Mach schnell auf! Um Gottes willen, öffne mir! Die Häscher sind mir hart auf den Fersen!» Ruedi, der verwegene Wilderer des Seeschlundes war’s, der so angstvoll um Einlass bat. Die herrschaftlichen Jäger des Landvogtes von Plaffeien waren hinter ihrem menschlichen Wild her.
Hurtig schob der Einsiedler den schweren Holzriegel zurück und liess den Flüchtling herein. Denn Ruedi besass daheim eine junge Gattin mit zwei bildschönen Kindern. Wer sollte für diese sorgen, wenn ihr Ernährer hinter Schloss und Gitter sass? urteilte der mitleidige Bewohner.
«Schlüpf schnell da ins Obergelass hinauf», forderte der Hauswirt seinen Schützling auf, «da oben bist du sicher.» Kaum hatte sich der Wilderer versteckt, da klopften seine Verfolger an die Eichentüre. Gemächlich schlürfte der alte Mann heran und öffnete vorsichtig.
«Ist nicht ein Wildjäger vorhin zu dir geflüchtet», fragte herrisch der Jäger. «Komm und sieh selber nach, ob jemand bei mir weilt», entgegnete der schlaue Hausherr. «Ich bin kein Menschenfänger und mische mich nicht in fremde Angelegenheiten.» Als die Späher ihr Opfer nicht fanden, zogen sie mit grimmigen Gesichtern ab.
Mit einer eindringlichen Mahnung zur Umkehr entliess der Herbergsvater am andern Tag seinen unfreiwilligen Besucher. Ruedi versprach, sein unleidiges Handwerk aufzugeben und ein ehrlicher Mann zu werden. Mit feurigen Worten des Dankes verliess er die rettende Heimstätte.
So ward ein Tag um den andern vom guten Mann im Bergstafel mit Werken selbstloser Menschenliebe ausgefüllt. Und manch verbittertes Menschenherz ging geläutert wieder weg vom Heim des frommen Wohltäters. Aber eines Tages fand man den edlen Bewohner vom Gutmannshaus kalt und bloss auf seinem Strohlager. Der Belohner alles Guten hatte ihn in das Land des ewigen Glückes gerufen.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.