In der Gemarkung zwischen Obertswil und Präderwan, so erzählten unsere biedern Ahnen, trieb sich vor etwa siebzig Jahren ein Ungeheuer herum. Es zeigte sich in verschiedener Gestalt: bald erschien es als schwarzes Füllen, bald als ein Hund; gewöhnlich aber als schwarze Katze. Leute, die zur Nachtzeit von Tafers oder St. Ursen über den «Boden» den Weg nahmen, sahen das «Unküür» oft auf einem Baumstrunk, einem Zaun oder auf einem Türlistock sitzen. Wer still an der schwarzen Katze vorbeiging, ohne sie zu stören, dem tat sie nichts zuleide; wer sie hingegen foppte oder erzürnte, dem sprang sie auf die Schultern und liess sich eine Strecke weit tragen, bis sie dann mit einem gewaltigen Satz wieder hinuntersprang.
Nicht allen Leuten gelang es, das Ungeheuer zu sehen; nur die Sonntags- und Fronfastenkinder vermochten das Gespenst zu erblicken. Die gewöhnlichen Sterblichen bekamen es nicht zu Gesichte. Ein solches Sonntagskind war der zwölfjährige Hansli Zamofing. Er war ein geweckter Bub; die einzige Freude seiner Mutter Verena; der Vater hatte beim Holzfällen im PlasseIbschlund vor Jahren sein Leben lassen müssen.
An einem sternhellen Februarabend kehrte Hansli von einem Gang nach St. Ursen zurück. Beim Verlassen des des Obertswilholzes erblickte er auf einem Türlistock eine schwarze Katze. Der Knabe glaubte, sie habe sich verlaufen. Mitleidig trat er hinzu, und mit seinen weichen Bubenfingern streichelte er das Tier, welches sich diese Zärtlichkeit anscheinend gern gefallen liess; denn es machte einen Katzenbuckel, schmiegte sich an den Knaben und liess ein zufriedenes Schnurren hören. Da bedachte sich Hansli nicht mehr lange, er nahm die Katze und hüllte sie sorgsam in seinen Rock und trug sie eiligen Schrittes nach Hause. Er wohnte mit seiner Mutter im «Einschlag». Das kleine Holzhäuschen hielten Verenas arbeitsame Hände allweil nett und freundlich.
Mit seinem Fund trat Hansli freudig in die warme Stube zur wartenden Mutter. «Schau, Mutter!» rief er ihr fröhlich zu, «Ggùgg, was für as hübsches Chätzli han i z Obertswil gfùne, ùf ama Türlistock isch es gruppet ù het gfrore, ù nahi han is hiim gnoe!»
Mit diesen Worten nahm er die Katze und stellte sie auf die warme Ofenplatte. Mutter Verena aber empfand keine Freude an ihres Buben Fund. Sie hatte im Leben gar oft Leid und erlebt, dass sie allzu vorsichtig und misstrauisch geworden war. Sie spürte ein unerklärliches Grauen vor der fremden Katze. Oft schon hatte sie gehört, mit solchen Tieren sei es nicht ganz geheuer. Gewiss war dies auch bei dieser Katze der Fall. Doch wollte sie dem Buben die Freude nicht verderben und sagte vorerst nichts.
Argwöhnisch betrachtete sie die Katze auf dem Ofen; die Frau sollte sich nicht getäuscht haben. Denn mit einem Male wurde die Gestalt der Katze grösser und grösser. Die falschen Augen sprühten grün und gelb wie Feuer und glotzten die Frau bösartig an. Die gute Frau bekam heftige Angst. «Hansli, trag mir di verhezti Chatz sofort usi!», befahl sie ihrem Sohn. Nur ungern kam dieser dem strengen Befehl seiner Mutter nach und wollte die Katze hinaustragen in den Schopf, wo Holz und allerlei Gerümpel aufgespeichert war.
Aber o weh! Die Katze liess sich nicht fangen. Sie wurde jetzt wild und fauchte und tobte gegen ihren Wohltäter. Flugs sprang sie dem Buben auf die rechte Schulter und liess sich weder durch Zerren noch Schlagen von ihrem Standort verscheuchen. Weinend rief Hansli die Mutter um Hilfe, doch auch diese konnte nichts ausrichten. Da kam sie auf einen guten Gedanken.
Hinter dem Kruzifix in der Stube hing noch der Palmzweig vom vorigen Jahr; sie nahm ihn und tauchte ihn in einen mit Weihwasser gefüllten Teller und ging mit dem geweihten Zweig auf das fauchende Tier los. Als die Katze den geweihten Palmzweig erblickte und das geweihte Wasser verspürte, konnte sie nicht mehr widerstehen. Sie stiess zuerst ein fürchterliches Geheul aus und sprang dann mit einem Riesensatz vom weinenden Hansli herunter und verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Am andern Morgen marschierten Verena und Hansli Giffers zu und gingen vorerst in die Kirche. Nach der heiligen Messe meldeten sie sich im Pfarrhaus, um ihr Erlebnis zu erzählen. Der würdige Pfarrherr ermahnte den Hansli: «Das war dir eine Mahnung, denn du sollst nachts nicht herumschwärmen. Derartige Tiere sollst du fortan nicht anrühren, sondern sein lassen!»
Ich brauche dem werten Leser nicht eigens die Versicherung zu geben, dass Hansli Zamofing seines Seelsorgers Worte gewissenhaft befolgte. Über das Vorgefallene hielten er und seine Mutter reinen Mund. Erst in seinen alten Tagen erzählte Hansli seiner Familie das wunderliche Erlebnis seiner Jugend.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.