Die Schlange und das Mädchen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es lebte einmal im Schloss von Asuel ein sehr schönes Mädchen. Ihr größter Schmuck war ihr prächtiges Haar. Viele Schlossherren der Umgebung hielten um ihre Hand an, doch zum Kummer ihrer Eltern wollte sie von keiner Heirat wissen. Die abgewiesenen Freier rächten sich, indem sie ihr Übles nachredeten. Schon von klein auf schloss sie sich am liebsten in eine Kammer des oberen Stockwerks ein und kam nur zu den Mahlzeiten zu den übrigen. Wenn die Sonne schien, wanderte sie den Hang unterhalb des Schlosses hinab, und jedes Mal kam sie mit aufgelöstem Haar zurück.

Im Winter, wenn draußen alles steif gefroren war, war sie etwas zugänglicher und spielte mit den andern Kindern. Später, im heiratsfähigen Alter, unterhielt sie sich des Öfteren mit den gleichaltrigen jungen Burschen. Aber sobald es Frühling wurde, war sie wieder ganz ungebärdig. Beim ersten Sonnenstrahl stürmte sie auf die Hänge, in das steinige und sandige Gelände. Im oberen Gemach hörte man sie oft mit sich selber sprechen. Manchmal hätte man schwören können, dass sie mit einem Kind spielte. Auch wenn man glaubte, man würde sie mit jemandem überraschen, indem man die Türe ganz unvermutet öffnete, fand man nie jemanden bei ihr. Zuweilen war es, als hörte man des Nachts etwas durchs Schloss pfeifen, es wäre schwer zu sagen gewesen, ob es Mäuse oder Fledermäuse waren. Dann wieder war ein Geräusch zu vernehmen, wie wenn im Kamin Kleider raschelten und rauschten oder wie wenn vor der Tür ein Tier mit pfeifendem Atem säße, das mit seinem Schwanz durch die Luft peitschte.

Von einer gewissen Zeit an wurde das Mädchen beobachtet, wenn es die Hänge hinunter stieg, ohne dass es sich aber dessen gewahr wurde. Einmal sah man sie eine große Schlange von der Länge eines Wiesbaums streicheln. Die Leute, die das gesehen hatten, behielten es für sich, aber von da an hielten nicht wenige die Tochter des Herrn von Asuel für eine junge Hexe. Sie indes ging regelmäßig zur Kirche, und beim Opfergang, bei dem es damals üblich war, Getreide darzubringen, legte sie statt einer Handvoll Weizenkörner manchmal eine wertvolle alte Münze auf den Altar. Die Eltern des Mädchens waren freilich froh, dass sie eine gute Tochter war, aber sie hätten es doch gern gesehen, wenn sie sich am Sonntagabend mit einem der jungen Edel-Leute unterhalten hätte, die ihr den Hof machten, anstatt sofort in das obere Zimmer zu laufen, sobald es dunkelte. Das Verhalten ihrer Tochter bereitete ihnen viel Sorge, und sie hatten genug Grund zu noch größerer Besorgnis. Bei der Taufe des Mädchens hatte man vergessen, eine seiner Tanten zum Tauffest zu laden. Diese stand im Ruf, eine Hexe zu sein. Sie war so erzürnt über die ausgebliebene Einladung, dass sie vom Teufel für ihre Nichte keinen anderen Umgang als den einer Schlange forderte. Kaum war das Mädchen auf der Welt, schlüpfte ein Schlänglein, nicht größer als eine Stricknadel, zu ihr in die Wiege. Das Tier hatte die Größe eines Rechenstiels, als das Kind neun Jahre alt war, und war wie ein Wiesbaum, da das Mädchen ihre einundzwanzig erreicht hatte. Es war fast immer bei ihr. Beim geringsten Geräusch verschwand es in einem Mauseloch, und später dann schlüpfte es durch den Kamin davon, über das Dach des Hauses, hinunter zu den Felsbänken.

Der Herr und die Herrin von Asuel litten solchen Kummer, dass sie den heiligen Fromont in seiner Hütte aufsuchten und ihn fragten, was sie tun wollten, damit ihre Tochter nicht länger die Gesellschaft junger Männer meide, sich nicht dauernd ins obere Gemach einschließe oder in die Felshalden hinauf fliehe. Sie waren sehr erstaunt, als der Heilige ihnen riet, den Kamin und die Mauselöcher im Kämmerchen ihrer Tochter zuzustopfen. Er versprach ihnen, die Sache aufzudecken, aber sie müssten Wachen aufstellen, die von Frühjahr bis Herbst, Tag und Nacht die ganze Gegend von der Spitze des Schlossturms bis zu den hintersten Schluchten zu überwachen hätten. »Wenn sie Lust bekommt zu heiraten, dann lasst sie den nehmen, der ihr gefällt, und wenn er arm wäre wie eine Kirchenmaus und auf der Straße barfuss daherliefe. Vor allem aber lasst sie nie allein, weder bei Tag noch bei Nacht, weder für Silber noch für Gold«, schärfte er ihnen noch ein.

Die Eltern taten, wie ihnen der Heilige geraten hatte. Zu Beginn schrie und heulte das Mädchen, schlimmer, als wenn man sie gewürgt hätte, und auf den Hängen hörte man es pfeifen; es war ein so schriller Schrei, dass er kaum zu ertragen war.

Eines Nachts schlug eine der Wachen Alarm und erzählte, dass eine Schlange, groß wie ein Wiesbaum, bis zu den Fensterläden der Kammer geklettert war, in der das Mädchen schlief, und dort lange verharrt habe.

»Als ich ihr zurief: >Der Teufel soll dich holen!< lachte die Schlange. Als ich mich aber bekreuzigte, sah ich die Schlange nicht mehr.«

Nach sieben Wochen war das Mädchen ganz verändert. Sie hüpfte herum wie ein Zicklein auf der Weide, und sang von früh bis spät. Auch sprach sie jetzt öfters mit den jungen Edelherren.

Da das Mädchen einen Heiratsantrag nach dem anderen bekam, sagte sie schließlich zu ihren Eltern, dass sie denjenigen heiraten wolle, der mit dem Rücken zur Wand die Spitze des Roche de Verre erklimmen könne. Dieser Felsen war ein Dämon. Viele junge Männer versuchten, die Höhe zu erklimmen.

Damals lebte in Pleujouse ein schöner junger Mann. Er fing gern wilde Tiere mit der Falle. Als er eines Tages zu seinen Fallen nachsehen kam, fand er eine Schlange, groß wie ein Heubaum. Sie hatte sich mit dem Schwanz in einer Falle verfangen, die vor einem Fuchsbau aufgestellt war. Er suchte nach einem Klotz, mit dem er sie hätte erschlagen können. Sie aber sagte:

»Wenn du mich in mein Loch schlüpfen lässt, dann werde ich dir helfen, daß du das Mädchen, das du liebst, zur Frau bekommst.«
»Die vom Schloss?«
»Welche sonst?«
»Aber ich kann doch nicht verkehrt auf den Roche de Verre klettern!«
»Nächste Woche werde ich mich häuten. Dann nimmst du meine alte Haut, machst dir ein Paar Galoschen daraus, und so wirst du hinaufklettern, als ob gar nichts dabei wäre.«

Als der Jüngling zu klettern versuchte, lachten ihn die jungen Edelherren alle aus. Doch sie lachten nicht lange. Kletterte doch dieser Nichtsnutz von einem Wildschütz mit einer Leichtigkeit auf den Roche de Verre wie ein Eichhörnchen auf die Tanne!

Dem jungen Mädchen war der Jüngling schon oft beim Kirchgang aufgefallen. So sprach sie zu ihren Eltern, dass sie ihn gern zum Manne nehmen würde. >Der heilige Fromont wusste schon, was er sagte<, dachten die Eltern.

Eines Abends, als der junge Mann am Feierabend zum Schloss hinaufging, hörte er ein Weinen in der Vouivre-Schlucht. Es war die Schlange.

Sie sprach: »Ihr habt mich ganz vergessen! Habe ich gelogen? Habe ich dir nicht geholfen? Und habe ich je um Lohn gebettelt? Alle Leute sind zur Hochzeit eingeladen, nur ich nicht. Sag deiner Braut, sie soll sich meiner erinnern, und du tu's auch.«

Das junge Mädchen aber lachte nur, als er ihr davon erzählte, und sprach: »Die soll bleiben, wo sie ist, ich hab sie satt.«

Der Jüngling nahm es nicht weiter wichtig, die Hochzeit fand statt, und im Schloss von Asuel sparte man nicht an Gold und Silber. Im Schlossgarten war die Tafel gerichtet. Es gab einen ganzen Ochsen und ein großes Fass Wein. Alle Hochzeitsgäste ohne Ausnahme konnten sich den Wanst füllen. Nach dem Mahle aber wurde zum Tanze aufgespielt, und alt und jung tanzte die Longue und die Ajoulotte. Mit dem Einbruch der Dunkelheit wollte die Braut, die sich den ganzen Tag über nicht wohlgefühlt und kaum etwas vom Essen angerührt hatte, mit niemandem mehr die Ajoulotte tanzen. Sie war über die Maßen traurig und sprach kein Wort. Auf einmal hörte man im Graben ein Pfeifen. Die Schlange rief sie.

Als die Zeit zum Schlafen herankam, war die Braut verschwunden. Man suchte sie überall im Schloss. Pechfackeln wurden angezündet, damit man die ganze Umgebung absuchen könne. Aber vergebens. Man sah die Braut niemals wieder, und auch die Schlange hörte man nie mehr in der Vouivre-Schlucht pfeifen. Die beiden Gespielen waren fort, Gott weiß wo.


Aus dem Französischen von Sigrid Früh
Quelle: Aus Arthur Rossat: Les „fôles“, contes fantastiques patois recueillis dans le Jura bernois. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 1911

 

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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