Gion war ein armer verwaister Bursche, er hatte weder Vater noch Mutter. Er wohnte bei einem Onkel. Gion klagte immer, er könne sich nicht fürchten; die andern erzählten immer von Furcht, er möchte das Fürchten lernen.
Eines Tages sagte der Küster zu Gion: «Ich will dich das Fürchten lehren. Geh heut Abend das Ave Maria läuten, doch du musst zuoberst auf den Turm steigen, dann bin ich sicher, dass du dich fürchtest.» Gion stieg hinauf, und als er den Kirchturm hinunter zurückkam, stand dort etwa auf halber Höhe ein weiss gekleidetes Gespenst. Gion fragte: «Wer bist du?» Das Gespenst gab keine Antwort. Er fragte nochmals: «Wer bist du?» Wieder keine Antwort. Da rief Gion: «Dich will ich schon zum Reden bringen», und er gab ihm eine solche Ohrfeige, dass der andere die Treppe hinunterfiel. Gion ging weiter, ohne auf ihn zu achten und kam nach Hause zu seinem Onkel, und der fragte: «Wie ist es gegangen, hast du das Fürchten gelernt?» Gion antwortete: «Ich habe mich vor nichts gefürchtet; es stand ein Gespenst auf halber Treppenhöhe. Es wollte mir keine Antwort geben, und ich habe ihm eine Ohrfeige verpasst, dass es kopfüber die Treppe hinunterfiel. Ich bin weitergegangen und habe es dort gelassen; ich muss weiter weggehen, um das Fürchten zu lernen.»
Er brach zu einer grossen Reise auf. Am Abend kam er zu einem Wirtshaus, und da sagte er zum Wirt, er wolle das Fürchten lernen, er habe viel erzählen hören, dass dieser sich gefürchtet habe und jener, doch dazu sei er nicht im Stande. Der Wirt sagte: «So will ich dir einen Ort zeigen, wo du das Fürchten lernen kannst. Hier über dem Dorf steht ein Schloss, und da wagt keiner zu bleiben, denn nachts spukt es. Du musst drei Nächte auf jenes Schloss gehen, dann weiss ich, dass du gelernt hast, dich zu fürchten; am Morgen kommst du hierher zurück.» Gion erwiderte: «Das will ich schon machen.» Und er ging.
Um Mitternacht fing es an fürchterlich zu lärmen. Gion beachtete es nicht. Am Morgen ging er wieder zum Wirt, und der fragte: «Wie ist es gegangen?» Gion antwortete: «Es war ein fürchterlicher Lärm, gesehen habe ich nichts.» Der Wirt sagte: «Geh nur nochmals hinauf, ich weiss, dass du lernen wirst, dich zu fürchten.» Gion erwiderte: «Einfach so da oben ist es mir fürchterlich langweilig. Schlafen kann ich nicht bei diesem Krach, gebt mir etwas zum Zeitvertreib.» Der Wirt fragte: «Was willst du denn?» - «Ich will eine Hobelbank, eine Drehbank und einen Amboss.» Der Wirt sagte: «Das kannst du schon haben.»
Am zweiten Abend kehrte er mit seinen Werkzeugen aufs Schloss zurück, und als es Mitternacht schlug, machte es den gleichen Lärm, nur stärker. Gion glaubte, die Mauern würden zusammenfallen. Er ging im Schloss herum, sah aber niemanden. Am Morgen kehrte er zum Wirt zurück. Der fragte: «Wie ist es gegangen?» Gion antwortete: «Ich dachte, das ganze Gebäude falle wegen des Lärms zusammen, doch gesehen habe ich niemanden.» Der Wirt meinte: «Geh du nur nochmals hinauf; ich weiss, dass du dich fürchten musst.»
Gion kehrte zum dritten Mal aufs Schloss zurück. Nach einer Weile hörte er einen grossen Lärm im Kamin oben. Er schaute hin, und da fiel ein Sack voll Ware herunter. Er band den Sack auf, und da waren lauter Knochen drin. Er trug den Sack auf die andere Seite der Küche und arbeitete weiter. Wenige Augenblicke später fiel ein Schädel durch den Kamin. Er legte diesen hinüber auf den Sack, kehrte zurück und arbeitete. Einen Augenblick später fielen fünf Katzen durch den Kamin. Die gingen hin, nahmen die Knochen und stellten sie auf wie zum Kegeln; als Kugel nahmen sie den Schädel. Gion schaute eine Weile zu, und dann leistete auch er den Katzen Gesellschaft beim Kegeln. Als er die Kugel aus der Hand liess, begannen die Katzen, Gion mit ihren Krallen zu kratzen, und der sagte: «Wartet einen Augenblick, ihr Schelme, wenn ihr zu lange Krallen habt, will ich sie schon kürzer machen!» Er packte eine nach der andern, klemmte die Beine in den Schraubstock der Hobelbank und schnitt allen die Krallen ab. Mit dem Schädel als Kugel ging das Kegeln auch nicht gut. Gion sagte: «Ihr habt da eine schlechte Kugel; die ist nicht rund.» Er nahm den Schädel, befestigte ihn in der Drehbank und drehte, bis er rund war. Die Gesellschaft vergnügte sich noch eine Weile zusammen, und dann stiegen die Katzen bald einmal den Kamin hinauf. Gion achtete nicht darauf und fürchtete nichts. Er begann wieder mit seinen Werkzeugen zu arbeiten. Nach kurzer Zeit hörte er einen fürchterlichen Lärm im Kamin oben; so dass er glaubte, der stürze ein. Er stand auf, lauschte und schaute. Da fiel ein Sarg herunter. Einen Augenblick war es ganz still, und dann begann sich im Sarg etwas zu regen. Er ging hin, öffnete den Deckel und liess den Toten heraus. Der wäre beinahe Gion an die Gurgel gesprungen. Doch der sagte: «Wart einen Augenblick, du Schelm; wenn das so gemeint ist, will ich dir schon zeigen, wen du dir vorgenommen hast.» Gion packte ihn, spannte ihm die Beine in die Hobelbank, verpasste ihm eine tüchtige Abreibung, warf ihn in den Sarg zurück, und der fuhr wieder durch den Kamin hinauf.
Am Morgen kehrte Gion zum Wirt zurück und erzählte alles, was vorgefallen war. Die, welche ihm zuhörten, fürchteten sich nur schon, ihn reden zu hören, doch Gion hatte das Fürchten noch nicht gelernt. Er reiste weiter und gelangte in ein anderes Dorf; dort sagte er wieder, er wolle das Fürchten lernen. Der Wirt erwiderte, er wolle ihn zum Galgen führen; dieser Tage seien ein paar gehenkt worden. Er solle während der Nacht dort bleiben; er glaube, dass er das Fürchten lernen könne. Wenn er friere, könne er ein wenig feuern, um sich zu wärmen.
Gion ging zum Galgen. Da fand er ein paar Männer, die gehenkt worden waren. Durch den fürchterlichen Wind, der wehte, schwankten diese hin und her wie ein Zaungattter. Er zündete ein Feuer an und lud auch die Gehenkten ein, sie sollten herunterkommen und sich wärmen. Die blieben jedoch da oben aufgehängt und gaben ihm auch keine Antwort. Bald einmal sagte er zu sich selbst: «Ich will hinauf und sie losmachen, was für sonderbare Dummköpfe, da oben bleiben und frieren» Er machte sie vom Galgen los und legte sie neben das Feuer. So wie er sie hingelegt hatte, blieben sie liegen. Allmählich begannen ihre Kleider zu brennen. Gion sagte: «Seid ihr denn verrückt, merkt ihr nicht, dass ihr Feuer gefangen habt?» Niemand gab ihm Antwort. Bald einmal sagte er: «Ich will euch dorthin tun, woher ich euch genommen habe, und bleibt meinetwegen da und friert.» Er hängte sie wieder auf und geht weiter.
Beim Wirt erzählte er alles, was vorgefallen war; es sei ihm noch nicht gelungen, das Fürchten zu lernen. Alle staunten über Gion, dass er sich nicht fürchtete. Er reiste ab und kam am Abend in ein Wirtshaus, erzählte all das, was er durchgemacht hatte, doch er sei noch nicht im Stande gewesen, das Fürchten zu lernen. Die Wirtin holte einen Zuber Wasser mit Fischen drin. Sie schüttete ihm das Ganze über den Rücken. Die Kälte des Wassers und das Gezappel der Fische versetzten ihn in einen solchen Schrecken, dass er sich fürchtete. Gion sagte darauf: «Jetzt habe ich endlich gelernt, mich zu fürchten. Jetzt will ich nach Hause.»
(Oberhalbstein)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.