Die drei bösen Feen

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

In einem Dörfchen lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hatten eine Tochter namens Maria. Eines Tages nun bei schönem Wetter nahm Maria ihren Korb und ging in den Wald, um Himbeeren zu suchen. Nachdem sie ihren Korb gefüllt hatte, sah sie auf einmal ein rotes Seidenband am Boden. Voller Freude bückte sie sich, um es aufzuheben, doch als sie es nehmen wollte, hob sie eine Falltür auf. Von dieser führte eine kleine, schmale Marmortreppe abwärts. Sie stieg ein paar Stufen hinunter, aber unversehens senkte sich die Falltür, und sie konnte nicht mehr hinauf. Da blieb ihr nichts anderes übrig, als abwärts zu gehen, und sie gelangte in eine grosse, schöne Stube. Als sie da so allein war, begann sie zu weinen und an ihre Mutter zu denken und wie die um sie klagen werde. Auf einmal hört sie es gegen die Falltür poltern, auch Frauenstimmen hört sie. Im nächsten Augenblick öffnet sich die Falltür mit einem lauten Krach, und herunter kommen drei böse Feen mit schrecklich langen Zähnen. Die älteste hiess Elisabet Travers, die zweite Elisabet und die dritte Elisa.

Das böseste Gesicht hatte Elisabet Travers. Die warf von der Seite her einen so wütenden Blick auf die arme Maria, dass die sich nicht getraute, die Augen aufzuheben und eine solche Angst hatte, dass sie zitterte. Nun sagte Elisabet Travers: «Weil du so neugierig warst, hier herunterzukommen, so bleibst du gleich da. Am Morgen machst du den Kaffee und putzest die Zimmer, nach dem Mittagessen wäschst du die Teller ab; dann musst du die beiden Kühe füttern und im Nebenstall draussen das Schwein und die Hennen, und pass gut auf, dass du mir jeden Tag den Käfig ausputzest, ich will diese verfluchten Federn nicht im ganzen Stall herumliegen sehen. Aber dann, dass du es weisst, am Tisch will ich dich nicht mit den Stallkleidern. Schlafen kannst du hier in der Nebenkammer, und morgens um sechs hat der Kaffee auf dem Tisch zu stehen. Schau, schau gut, dass du tust, was ich dir befehle, sonst wirst du gefressen!»

Zwei Tage vergingen so, und Maria machte immer alles, wie sie es ihr befohlen hatten; doch vor allem Elisabet Travers sah sie überhaupt nicht freundlich an. Die war die Hässlichste; sie war spindeldürr und hatte grüne Augen wie eine Katze; die Zähne standen ihr geradeaus zum Maul heraus, so dass es Maria jedes Mal, wenn sie sie anschaute, kalt den Rücken herunterlief. Ein paar Mal versuchte sie, als die bösen Feen nicht in der Stube waren, die Falltür aufzureissen, aber das war vergebens. So musste sie sich halt mit ihrem Schicksal abfinden.

Eines Tages nun, als sie eben zu Mittag assen, sagte Elisabet Travers: «Wir gehen heute mit unserer Strickarbeit zur Sechs-Wunder-Tante hinüber auf Besuch, und vorher verstreuen wir den Reis in den vier Säcken im Gang draussen im ganzen Haus herum. Du, Maria, musst den Reis zusammenlesen und ihn wieder in die vier Säcke tun. Aber dass du es weisst: Wenn wir ein einziges Reiskorn in einer Ecke finden sollten oder wenn der Reis nicht mehr so sauber ist wie jetzt, so wirst du noch heute Abend gefressen. Hast du verstanden?»

Um ein Uhr nachmittags verreisten sie, und sobald Maria den Knall der Falltür hörte, begann sie, den Reis aufzulesen; aber sie kam furchtbar langsam voran, und bis sie nur eine Faust voll beisammen hatte, verging schon eine gute Weile, denn der Reis lag überall verstreut herum, unter Tischen, Bettgestellen, Kommoden und Kästen. Ziemlich rasch sah sie ein, dass es unmöglich war, alles bis um vier Uhr, der Rückkehr der bösen Feen, aufzulesen. Ihre Angst wurde immer grösser, als sie es drei Uhr schlagen hörte, und sie begann heftig zu weinen. Plötzlich hört sie jemanden die Falltür öffnen, und sie sagt: «O Schreck, o Schreck, jetzt sind sie da.» In ihrer Angst hat sie nicht gesehen, dass neben ihr ein schöner Bursche steht. Der war verzaubert und hiess Georg. Und er fragte sie: «Schönes Mädchen, was fehlt dir? Warum weinst du so? Haben dir etwa die bösen Feen befohlen, diesen Reis aufzulesen? Ich kenne diese Teufelsweiber ganz genau. Weine nun nicht mehr, ich bin hier, um dir zu helfen. Fürchte dich nicht: Obwohl ich verzaubert bin, werde ich dir nichts Böses tun.» Maria war sehr froh und erzählte, dass die bösen Feen sie fressen wollten, wenn sie nicht allen Reis aufgelesen habe. Da sagte Georg: «Wenn du mir einen Kuss gibst, so will ich dir sofort helfen.» Sie gab ihm einen Kuss, und dann hiess er sie: «Geh jetzt schnell hinaus und bring mir eine Schale Kaffee.» Sie ging, und kurze Zeit später kam sie zurück mit der Schale Kaffee und zwei Eierbrötchen auf einem Teller. Als er gegessen und getrunken hatte, nahm er aus seiner Jacke einen goldenen Stab, schlug damit dreimal auf einen runden Tisch, und in dem Augenblick sah man kein einziges Reiskörnchen mehr in der Stube, und alle vier Säcke standen gefüllt und zusammengebunden im Gang draussen wie vorher. Maria freute sich sehr und dankte Georg, weil er ihr so gut geholfen hatte. Der blickte jetzt auf die Uhr und sah, dass nur noch eine Viertelstunde bis vier Uhr blieb. Er stieg auf den Ofen, und auf seinen Pfiff öffnete sich die Falltür, und er - auf und davon.

Sobald Georg fort war, machte Maria rasch den Kaffee für die bösen Feen, und um sie in gute Laune zu versetzen, stellte sie Eierbrötchen und Blätterkuchen auf den Tisch. Gerade als sie den Kaffee auftischt, öffnet sich die Falltür, und herunter steigen nacheinander alle drei bösen Feen, Elisabet Travers voraus. Und die fragte: «Hast du alle Reiskörner aufgelesen?» Maria antwortete: «Ich glaube, Ihr findet keines mehr.» Wie sie herumschaute und keinen Reis mehr sah, meinte sie: «Hm, da wirst du wohl Hilfe gehabt haben; wie auch immer. Sobald wir den Kaffee getrunken haben, wollen wir noch im ganzen Haus suchen, und wehe dir, wenn wir eines finden!» Und tatsächlich, kaum hatten sie den Kaffee ausgetrunken, so gingen sie im Gänsemarsch herum und schauten unter Tischen und Schränken, hinter dem Ofen, in Schuhen und Pantoffeln und in allen Löchern nach - aber sie fanden nicht ein einziges Körnchen.

Am andern Tag, nach dem Mittagessen, sagte Elisabet Travers: «Heute gehen wir wieder zur Sechs- Wunder-Tante, und du spülst unterdessen die Lauge aus allen Tüchern, die in der Küche draussen im grossen Zuber liegen. Danach trocknest und bügelst du sie, und ich will, dass ich bei unserer Rückkehr die ganze Wäsche zusammengelegt in der grossen Kammer draussen vorfinde.» Jetzt begann die arme Maria zu weinen und zu jammern: «Aber wie ist es möglich, dass ich Wäsche trocknen und bügeln kann, wenn es wie aus Kübeln giesst?» - «Genug», sagte Elisabet Travers, «das geht mich nichts an; schau du nur, dass diese Arbeit gemacht wird, sonst wirst du gefressen!» Um ein Uhr nahmen sie ihre Körbe mit dem Strickzeug unter den Arm und gingen zur Sechs-Wunder-Tante hinüber.

Maria stellte nun den grossen Brühkessel aufs Feuer, schleppte einen Eimer Wasser um den andern herein, bis der Kessel voll war, und legte die Schafmistplatten, Holz- und Rindenstücke ins Feuer. Allmählich erhitzte sich das Wasser, so dass sie beginnen konnte, die Lauge aus den Tüchern zu spülen. Doch das war eine schreckliche Arbeit. Als sie zwei Eimer Wäsche gespült hatte, stieg sie auf den Dachboden, um sie aufzuhängen, aber es regnete schon durchs löchrige Dach hindurch. Nun ging sie wieder hinunter, und mit einem Blick aus der Küchentür sah sie, dass der Himmel noch dunkler war als zuvor; es donnerte und blitzte fürchterlich. Halb verzweifelt setzte sie sich auf den Scheitstock in der Küche und begann zu weinen. Doch plötzlich stand sie auf und ging in die Stube, um auf die Uhr zu schauen, und voller Angst sah sie, dass es schon etwas nach drei Uhr war. Da öffnet sich in dem Augenblick die Falltür, und Georg steigt herunter und fragt, was ihr fehle. «Oh, ich Arme muss heute bei diesem Hudelwetter waschen, die Lauge ausspülen und die ganze Wäsche bügeln, die im grossen Zuber in der Küche draussen liegt, und wenn ich bis um vier Uhr nicht fertig bin, so wollen mich die bösen Feen fressen.» Georg ging nun mit ihr in die Küche und sagte: «Wenn du mir einen Kuss gibst, so wird die Wäsche augenblicklich an ihrem Ort sein.» Da küsste Maria ihn, er nahm den Zauberstab hervor, gab drei Schläge, und damit war der Zuber verschwunden, und die ganze Wäsche lag gewaschen und gebügelt in der grossen Kammer draussen auf dem Tisch.

Nachdem Maria ihm seine Tasse Kaffee gegeben hatte, sagte Georg: «Jetzt pass auf; morgen Nachmittag wird dich die alte böse Fee zur Sechs-Wunder-Tante schicken, um die Sechs-Wunder-Schachtel zu holen. Doch fürchte dich nicht, auch wenn du ihre Riesenzähne siehst, die sind noch ein Stück grösser als jene von Elisabet Travers. Sie wird dir noch und noch Komplimente machen. Wenn sie in den Keller steigt, um einen Apfel für dich zu holen, so öffnest du in dem Augenblick die Stubentür, nimmst die Sechs-Wunder-Schachtel vom Bücherbrettchen in der rechten Ecke herunter und läufst rasch zur Tür hinaus. Wenn die Alte dir nachrennt und daran ist, dich zu erwischen, so nimmst du dieses Ei, das ich hier in der Tasche habe, und wirfst es zu Boden. Aber pass gut auf, damit du nicht vergisst, was ich dir sage, sonst bist du verloren.»

Jetzt stieg Georg durch die Falltür hinauf, und kurze Zeit später kamen die bösen Feen.

Maria hatte den Kaffee fertig auf dem Tisch, und sie mussten sich nur hinsetzen, um ihn zu trinken. An jenem Abend sagte Elisabet Travers kein einziges Wort. Aber am andern Tag meinte sie zu den beiden andern: «Jetzt wollen wir doch sehen, ob wir sie heute aus dem Weg räumen können. Ich trage ihr auf, zur Sechs-Wunder-Tante zu gehen. Dann sind wir sie los.» Am Nachmittag befahl sie Maria: «Du gehst zur Tante hinüber und sagst, dass wir ihr einen guten Abend wünschen und um die Sechs-Wunder-Schachtel bitten.»

Maria ging aus der Stube, aber vor dem Aufbruch steckte sie in der Nebenkammer das Ei, das Georg ihr gegeben hatte, in die Rocktasche. Dann machte sie sich auf den Weg. Unweit vom Haus der Tante wohnten der Metzger mit seiner Familie und seinen Arbeitern und daneben die Bäckerin. Als sie Maria vorbeigehen sahen, fragten sie: «Wohin des Weges, wohin des Weges?» Maria antwortete: «Ich muss zur Tante von Elisabet Travers hinüber und die Sechs-Wunder-Schachtel holen.» Da sagten sie: «O du Arme, o du Arme, dich werden wir nicht mehr sehen!» Maria meinte: »Macht euch nicht so viele Sorgen um mich! Doch wenn ihr merkt, dass ich in Gefahr bin, so kommt mir zu Hilfe, dann werde ich euch auch helfen.»

An der Tür der Tante liess sie den Klopfer fallen, und einen Augenblick später kam die böse Fee in den Gang heraus und öffnete. Mit Angst und Schrecken sah die arme Maria die schrecklichen Zähne der Alten. Aber kaum hatte die Alte sie erblickt sagte sie: «Guten Abend, guten Abend, meine liebe Maria, was machst du? Geht es dir gut? Komm ein wenig in die Stube!»

Jetzt erwiderte Maria: «Nein danke, ich hab’s eilig und muss sofort gehen.» - «Was hättest du denn gern, meine liebe Maria?» - «Ich hätte gern die Sechs-Wunder-Schachtel.» - «Ah, wenn es nur das ist, so warte doch einen Augenblick: Ich gehe nur in den Keller und hole einen Apfel für dich, ich bin sogleich wieder da.»

Aber statt im Keller einen Apfel zu holen, geht die Alte hinunter zum Scheitstock, um sich ihre Riesenzähne zu wetzen. Kaum hat die Alte ein paar Stufen hinter sich, so springt Maria in die Stube, nimmt die Sechs-Wunder-Schachtel vom Bücherbrett - und auf und davon. Die Alte, welche die Treppe hinaufkommt und Maria zur Tür hinausrennen sieht, schreit: «Warte, warte, Maria, ich habe hier einen schönen Apfel für dich.» Aber Maria achtete nicht darauf und rannte, wie sie nur konnte. Doch die Alte war ihr in wenigen Augenblicken auf den Fersen und wollte sie am Rock packen. In dem Augenblick warf Maria das Ei zu Boden. Es gab ein Beben, und aus dem Ei floss ein so grosser See, dass die böse Fee zu Boden fiel. Als der Metzger und die Bäckerin das sahen, warfen sie Scheitstöcke, Brotbretter und Blechplatten hinterher, um ihr schneller den Garaus zu machen.

Inzwischen waren die drei bösen Feen auf die Laube hinausgegangen und warteten auf die Nachricht der Tante, dass Maria gefressen worden sei. Während dieser Zeit stand Georg unter der Laube und sägte an einem Pfosten, und es fehlte nur eine Handbreit, bis der Pfosten durch war, und die Laube begann schon zu wanken. Die Säge war aus Gold, und er konnte sägen wie der Teufel - niemand hörte den Lärm. - In dem Augenblick, als die Sechs-Wunder-Tante zu schwimmen begann, krachte der Pfosten zusammen, und plumps, waren die drei Elisabeten auch im Wasser drin. Wenn die eine oder die andere den Kopf hob, so warfen Georg und Maria grosse Steine und allerlei Abfälle, welche sie gerade am Wegrand fanden, hinterher. - Jetzt gab es ein so fürchterliches Beben, dass das ganze Tal davon widerhallte - und das Volk war befreit von diesen Teufelsweibern.

Nun dankte Maria ganz lieb dem Georg und auch dem Metzger und der Bäckerin. Alle sagten zu ihm: «Vergelts Gott, und er segne Euch, dass Ihr uns befreit habt.»

Georg und Maria gingen ins Haus; sie waren glücklich und zufrieden, dass all die schönen Sachen darin ihnen gehörten. Sie hatten eine wunderschöne Hochzeit und luden viele, viele Leute ein, und auch mich, und gaben mir reichlich zu essen und zu trinken, und zuletzt gaben sie mir einen Tritt in den Arsch und sagten: «Geh jetzt und erzähle dieses Märchen weiter.» Und dies habe ich jetzt getan.

(Oberengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler. 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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