Es war einmal in einem Wirtshaus eine sehr schöne junge Magd. Die gebar einen prächtigen Buben. Da sie aber das Kind nicht bei sich in der Wirtschaft behalten konnte, verpackte sie es zusammen mit dreihundert Gulden und ihrer Fotografie in eine Schachtel, band diese gut zu und legte sie in einen Bach, der zu einer Mühle floss. Das Wasser trieb die Schachtel mit dem Kind drin bis zur Mühle.
Auf einmal stand das Mühlrad still, da ging der Müller hinaus und schaute nach, was los sei. Er fand die Schachtel, die gegen das Mühlrad getrieben worden war. Er nahm sie, trug sie in die Stube, öffnete sie, und darin lag ein kräftiges und schönes Kind. Der Müller war ganz vernarrt in diesen Buben, obwohl er selber fünf Kinder hatte. Doch seine Frau wurde gleich unwillig und sagte: «Hättest du doch diesen Fund gelassen, wo er war! Wir haben Kinder genug!»
Inzwischen schauten sie die Schachtel genauer an und fanden noch die dreihundert Gulden und die Fotografie. Als die Frau das Geld sah, war sie einverstanden, das Kind zu behalten, bis es etwas grösser sei und sein Brot selber verdienen könne.
Die Müllersleute zogen den Buben auf, bis er gross war. Da wollte er in die Fremde gehen. Dem Müller war dies recht, und er gab dem Burschen, bevor er ihn ziehen liess, die Fotografie mit, die in der Schachtel war. Nachdem er vom Müller und seiner Frau, von denen er glaubte, es seien seine Eltern, Abschied genommen hatte, zog er weit fort und kam in eine Stadt. Dort diente er mehrere Jahre als tapferer Soldat.
Jeden Abend zündete der Bursche zwei Kerzen an, stellte die Fotografie dazwischen und betete davor auf den Knien, um herauszufinden, wer darauf sei. Als er ein grosser und schöner Bursche geworden war, wollte er einmal den Müller besuchen. Unterwegs kam er in ein Wirtshaus und blieb ein paar Tage dort. Da war eine sehr schöne Magd, die gefiel dem Burschen, und er fragte sie, ob sie ihn heiraten wolle. Die Magd willigte gerne ein, und nach ein paar Tagen machten sie Hochzeit.
Der Mann aber schloss sich jeden Tag allein in seinem Zimmer ein. Einmal schlich seine Frau ihm nach und schaute durchs Schlüsselloch, was er mache. Da sah sie, dass er zwei Kerzen angezündet und ein Bild dazwischen aufgestellt hatte und da betete. Als der Mann wieder draussen war, ging sie ins Zimmer und schaute wer auf dem Bild sei. Da erkannte sie ihre eigene Fotografie und wusste nun, dass ihr Mann ihr Sohn war, den sie ins Wasser gelegt hatte. Von einem Augenblick auf den andern wurde sie sehr traurig. Der Mann merkte dies bald und fragte, was ihr fehle, dass sie so traurig sei. Doch sie wollte nichts sagen. Da sagte er, wenn sie es ihm nicht erzähle, gehe er weg, und sie sehe ihn nie wieder. Endlich sagte die Frau, sie sei nicht nur seine Gattin, sondern auch seine Mutter. Denn die Fotografie, die er besitze, sei ihre. Dann schaute der Sohn seine Frau und das Bild an, und nun erkannte er, dass die Frau darauf auch seine Mutter war.
Darauf verliess er seine Frau, ging auf eine Insel zu zwei Einsiedlern und fragte sie, ob sie ihm nicht einen Ort wüssten, wo ihn niemand finde. Die Einsiedler sagten, doch, das könnten sie ihm schon sagen, in der Nähe von hier sei ein Schloss, dort wohne niemand, und hier finde ihn bestimmt niemand.
Er ging zu diesem Schloss und hiess die Einsiedler, sie sollten, wenn er drinnen sei, das Tor schliessen und den Schlüssel ins Wasser werfen. Die Einsiedler taten, was er wollte, und er führte von nun an ein heiligmässiges Leben.
Während dieser Zeit starb der Papst. Als die Kardinäle sich versammelten, um den Papst zu wählen, wollte sich die Taube auf keinen der Anwesenden setzen, und sie hörten eine Stimme: auf der und der Insel sei der, den sie zum Papst wählen sollten. Da gingen die Kardinäle auf diese Insel, doch sie fanden niemanden und sie kamen bald wieder zurück. Als sie sich wieder versammelten, um zu sehen, auf wen die Taube sich setze, wiederholte sich alles, und sie hörten zum zweiten Mal diese Stimme: sie sollten auf diese Insel gehen und dort den Papst suchen. Zwei andere Kardinäle gingen dann auf die Insel kamen zur Hütte der beiden Einsiedler und fragten sie, wo der sei, der Papst werden müsse. Die beiden Einsiedler dachten nach und sagten dann, so einer sei schon vor sieben Jahren in das alte Schloss hier gekommen, doch der sei bestimmt schon lange tot, und ausserdem könne man gar nicht hinein, denn der Schlüssel sei ja ins Meer geworfen worden.
Die beiden Kardinäle mussten bei den Einsiedlern übernachten, und die gingen für das Nachtessen ihrer Gäste fischen. Als sie die Fische aufschlitzten, um sie auszunehmen, fanden sie in einem Fisch den Schlüssel zum Schlosstor. Jetzt wussten sie, dass der Mann im Schloss noch am Leben sein musste. Sie gingen hin, öffneten das Tor und fanden den Mann. Dann forderten die Kardinäle ihn auf, mit ihnen zu kommen, und sie gingen nach Rom und dort in die Kirche, wo sich alle Kardinäle versammelt hatten, um den neuen Papst zu wählen. Sobald der Mann aus dem Schloss in der Kirche war, setzte sich die Taube auf seinen Kopf, und er wurde Papst.
Die Mutter des Papstes hatte nach der Abreise ihres Sohnes keine Ruhe mehr. Sie weinte und klagte Tag und Nacht. Einmal ging sie zu einem Priester und beichtete, was passiert war. Doch der Priester sagte, er könne sie nicht lossprechen. Sie müsse zum Papst nach Rom. Also ging sie nach Rom. Als der Papst die Büsserin sah, erkannte er sie, doch sie ihn nicht. Sie beichtete dem Papst, doch der sagte, er könne sie nicht lossprechen, bis sie nicht aufwärts fliessende Bäche gefunden habe. Die Mutter zog überall herum, um diese Bäche zu finden, doch sie fand sie nicht. Dann kehrte sie zum Papst zurück und der sagte, sie solle sich noch einmal auf die Suche machen. Doch diesmal ging sie in eine Kirche und weinte heftig. Der Papst, der ihr gefolgt war, um zu sehen, wohin sie gehe, trat dann zu ihr hin und sagte, ihre Tränen seien aufwärts fliessende Bäche. Jetzt wolle er sie lossprechen. Der Papst sprach sie los und gab sich auch als ihren Sohn zu erkennen.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch