Vor vielen Jahren lebte in einer grossen und schönen Stadt ein König, der hatte drei sehr schöne Töchter. Aber damit sie nicht in schlechte Gesellschaft kämen, liess er die Mädchen nie aus dem Haus.
Doch an einem schönen Sommertag bettelten die Töchter den Vater so lange an, bis er ihnen erlaubte, einen Spaziergang im Garten zu machen. Zur Beaufsichtigung der Mädchen gab er einen alten und treuen Diener mit. Aber es war an diesem Tag sehr heiss, und der gute Diener bekam einen schrecklichen Durst. Deshalb fragte er die Königstöchter, ob er nicht für einen Augenblick in ein Wirtshaus gehen dürfe, um etwas zu trinken. Die Mädchen erlaubten ihm das und versprachen, vor dem Wirtshaus auf ihn zu warten.
Aber als der Diener aus dem Wirtshaus kam, waren die Mädchen weg und nicht mehr zu finden. Ganz schnell gab da der Diener dem Vater Bescheid. Der erteilte seinen Rittern den Befehl, die Töchter überall zu suchen, doch vergebens. Als der Vater eingesehen hatte, dass nichts zu machen war, liess er verkünden, die Männer, welche seine Töchter fänden, dürften sie heiraten. Das hörten auch drei arme, aber wackere Burschen, und sie machten sich auf den Weg zum König. Sie boten sich an, die Töchter zu suchen. Auf ihr Versprechen hin alles zu tun, um die Prinzessinnen zu finden, gab der König ihnen ein schönes Reisegeld mit, und sie machten sich auf den Weg.
Sie gingen, bis sie in ein wildes Gebirge kamen, voll Wald und Gestrüpp. Spät am Abend gelangten sie zu einem grossen und alten Schloss. Sie gingen mutig durch das grosse Tor, dann die Treppe hinauf zu den oberen Stuben und Zimmern. Aber sie sahen und hörten niemanden. Am Abend assen sie aus ihrer Tasche und legten sich in die drei seidenen Betten, die in einem Saal standen.
Am andern Morgen schauten sie sich im Schloss genauer um, und dann machten sie ab, der Älteste solle zu Hause bleiben und das Nachtessen kochen. Die beiden andern müssten die Königstöchter suchen gehen. Dies geschah auch so.
Aber als der Älteste gegen Abend kochte, kam ein alter Mann mit weissem Haar und einem weissen Bart zur Tür herein und fragte ihn: «Was machst du da?» Der Bursche, der nicht wusste, was antworten, fiel vor lauter Angst in Ohnmacht. Als die beiden andern am Abend zurückkehrten, war nichts gekocht, und sie mussten Brot und Käse essen. Der Koch entschuldigte sich, er habe Herzschmerzen gehabt und deshalb kein Nachtessen kochen können.
Am nächsten Tag traf es den Mittleren zum Küchendienst, aber auch zu ihm kam der alte Mann mit dem weissen Haar, und der fragte ihn nicht gerade freundlich: «Was machst du da?» Er erschrak derart, dass es ihm schwarz vor den Augen wurde, und er sank neben dem Herd zu Boden. Am Abend, als die andern zurückkamen, war wieder kein Nachtessen da, und dem Mittleren war es auch schlecht geworden.
Am dritten Tag war der Jüngste als Koch an der Reihe. Als die andern fort waren, ging er im ganzen Schloss herum. Zuoberst unter dem Dach fand er in einem Kämmerlein ein grosses Schwert aufgehängt, das aber zuckte wie ein Blitz hin und her. «Das ist eine Waffe für mich!» dachte der Bursche, holte das Schwert herunter und schnallte es um. Später ging er dann in die Küche, um seinen Freunden etwas zu kochen. Er stand nicht lange am Herd, da kam der alte Mann und schrie: «Was machst du da?» «Aha! Jetzt weiss ich, weshalb es meinen Freunden schlecht geworden ist», sagte der Jüngste, «mach, dass du fortkommst, wenn du mein Schwert nicht spüren willst!» Der Alte machte nicht einmal eine unfreundliche Miene und ging. Als die beiden Freunde am Abend zurück waren, stand ein gutes Nachtessen auf dem Tisch, und sie hatten es lustig miteinander.
An diesem Tag hatten die beiden ein schreckliches Loch gesehen, welches tief in den Boden hinunterführte und kein Ende zu haben schien. Deshalb gingen sie am nächsten Tag alle zusammen hin und nahmen eine Menge Seile mit. Jetzt aber stellte sich die Frage, wer als erster in die Höhle steige. Da der Jüngste auf sein gutes Schwert vertraute, bot er sich dazu an, und die andern beiden versprachen, ihn heraufzuziehen, wenn er ein Zeichen gebe. Der Jüngste seilte sich an, und die andern liessen ihn hinunter.
Nach langer Zeit spürte er Boden unter den Füssen, und er machte sich vom Seil los. Nachdem er ein wenig herumgegangen war, gelangte er durch einen Gang zu einer weiten, weiten Ebene, wo er ein prächtiges Schloss sah. Ganz hell war es dort unten noch nicht, doch auch nicht dunkel.
Als er um das Schloss herumging, schaute ein Mädchen aus dem Fenster und sagte: «Pass auf, mein Guter, der Drache mit den drei Köpfen kommt bald, und du bist verloren, wenn er dich erwischt!» Auf die Frage des Burschen, wer sie sei, antwortete das Mädchen, sie sei eine Königstochter, und zwei Drachen hätten noch zwei Schwestern geraubt. Jetzt war der Bursche sicher, die drei Mädchen gefunden zu haben. «Lass mich zu dir hinein!» bat er das Mädchen, da öffnete sie das Tor.
Kaum war er oben im Zimmer bei der Prinzessin, so kam der Drache mit den drei Köpfen zur Tür herein. Aber der Bursche fürchtete sich überhaupt nicht vor ihm. Mit zwei Schwerthieben haute er die Köpfe des Drachen ab. Voller Freude umarmte ihn das Mädchen und dankte ihm. «Meine beiden Schwestern sind auch in diesem Schloss, die Mittlere wird von einem Drachen mit fünf, die Jüngste von einem mit sieben Köpfen bewacht!» Bald schaute eine andere Prinzessin aus dem Fenster, und als sie vom Burschen hörte, warum er hier sei, liess sie ihn herein. Sie wurde von einem Drachen mit fünf Köpfen bewacht, und der flog gleich herbei. Der Bursche musste wacker kämpfen, aber mit jedem Streich kostete es dem Drachen einen Kopf, und schliesslich verlor er alle. Die Prinzessin dankte weinend ihrem Befreier und erzählte ihm, in einem Nebenzimmer werde die jüngste Schwester von einem Drachen mit sieben Köpfen bewacht. Ohne lange zu zögern, trat der Bursche ins Zimmer, welches die Prinzessin ihm zeigte. Kaum aber öffnete er die Tür, kam ihm ein Ungeheuer von einem Drachen entgegen. Sieben Köpfe hatte das Biest!
Der Bursche hatte grosse Mühe, aber sein gutes Schwert half ihm, und schliesslich wurde auch dieser Drache besiegt. Die jüngste Prinzessin, so schön wie die Sonne und so weiss wie Schnee, umarmte ihn und schenkte ihm einen Ring. Dann ging der Bursche mit den drei Königstöchtern zu den Seilen, band sie daran fest und gab das Zeichen zum Hinaufziehen. Als die oben die schönen Mädchen, vor allem die Jüngste, sahen, wurden sie auf ihren Gefährten schrecklich neidisch. Und sie zwangen die Mädchen zu schwören, sie müssten dem König sagen, sie hätten sie befreit. Dann gingen sie mit den Prinzessinnen zum König. Den richtigen Befreier aber liessen sie in der Höhle unten.
Als der plötzlich sah, dass sie alle Seile in die Höhle hinunterwarfen, durchschaute er ihre böse Absicht ganz genau, und er ging zum Schloss der Drachen zurück. Ganz traurig schnitt er die Zungen aus den Köpfen der Ungeheuer und steckte sie in seine Tasche. Während er vor sich hin grübelte, kam der Alte vom ersten Schloss zu ihm und fragte, wie es ihm gehe. Der Bursche war verblüfft über diesen Besuch, und er erzählte ihm die Geschichte. «Nimm das nicht so schwer», sagte der Alte und führte den Burschen auf einer schönen und breiten Treppe zum ersten Schloss. Dort oben zeigte er dem erstaunten Burschen den Weg zur Stadt des Königs. An diesem Tag da sang und tanzte alles. Als der Bursche fragte, was das zu bedeuten habe, gab man ihm zur Antwort: «Die Königstöchter heiraten heute ihre Befreier.»
Sobald der Bursche das hörte, ging er zum Koch des Königs und sagte, er sei ein ausgezeichneter Koch, und er würde gern bei der Zubereitung des Festessens helfen. An diesem Tag hatte der Koch des Königs viel zu tun, und er erlaubte dem Burschen gern, dass er ihm half, denn er hielt ihn für einen Koch. Es musste ein Küchlein für die jüngste Braut gebacken werden, und die befahl dem Burschen, dass er es tue. Und es gelang ihm auch, ein gelbes und schönes Küchlein zu backen, so schön wie nie eines zuvor. Aber während der Koch in der Stube war, steckte der Bursche den Ring der jüngsten Königstochter in das Küchlein und befahl dem Diener, der es auftrug, das Küchlein entzweizuschneiden. Als der Diener dies am Mittagessen machte, spürte er etwas Hartes unter dem Messer und fand beim Nachschauen den Ring. Als die Königstochter den Ring sah, war sie ganz ausser sich vor Freude. Sie rannte in die Küche und umarmte den Burschen. Nachher erzählte sie dem König, der Königin und allen Gästen die Geschichte ihrer Befreiung und was die beiden falschen Gefährten getan hatten. Am gleichen Tag hielt die jüngste Prinzessin mit ihrem Retter Hochzeit und die beiden falschen Freunde mussten ihre Köpfe lassen.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch