1. Der Hartherzige
Eine arme Frau klopfte an die Türe des Bauernhauses. Die Bäuerin kam heraus und fragte nach Begehr. „Um Gottes willen ein wenig Brot, wir haben schon lange keines mehr gesehen.“ Die Bäuerin hatte ein gutes Herz und wies keinen Bittenden ab. „Wartet,“ sprach sie, „ich hole euch.“ Aber in diesem Augenblicke schlürpte der Bauer herbei und fuhr sie an: „Was - du willst Brot verschenken? Das dulde ich nicht.“ Er stellte sich vor die Bettlerin und schrie sie an: „Wir Bauern bekommen das Brot auch nicht geschenkt. Wir müssen pflügen, bis uns der Buckel krumm wird und der Schweiss in die Furche brünnelt. Wir müssen im heissen Sonnenbrand das Korn mähen, die Garben binden - müssen beim Dreschen Wolken von Staub schlucken. Aber da sieht man keine Bettler - haben Angst, sie müssen helfen. Erst der süsse Duft des neugebackenen Brotes lockt sie an wie der Honig die Wespen. Dann kommen sie, strecken die Hand aus und drehen die Augen fromm himmelwärts: Bauer, gib uns um Gottes willen Brot. Ich aber sage: Packt euch um Gottes willen fort und schaffet.“
Die Bäuerin fiel ihm in die Rede: „Du versündigst dich. Nicht alle Armen sind Faulenzer. Es gibt unter ihnen auch brave Leute, die stets ihre Pflicht getan haben und unverschuldet in Not geraten sind. Denen müssen wir helfen, das ist Christenpflicht.“ Der Bauer liess sich nicht belehren. „Das Korn, das Brot, welches ich erarbeitet habe, gehört mir - mir allein - und niemand, nicht einmal der Herrgott kann von mir verlangen, dass ich es mit diesem Bettelpack teile.“ So sprach er und schlug zornig die Haustüre zu. Die arme Frau ging weinend von dannen, um vor einer andern Türe ihre Bitte zu wiederholen.
Was jetzt geschah, das sah der Bauer nicht. Aus allen Ritzen und Fugen und Spalten des Speichers krochen kleine, schwarzbraune Käferchen (Calandra granaria). Sie fielen über das Korn her, bohrten mit den spitzen Rüsseln feine Löchlein in die Weizenkörner und legten in jedes ein winziges Ei hinein. Aus diesem schlüpfte bald ein Würmchen. Das frass sich tiefer und tiefer ins Körnchen hinein, höhlte es vollständig aus und verpuppte sich endlich darin. Sechs Wochen später begann es in den Getreidekasten leise zu krabbeln und zu summen. Aus jedem Weizenkorn kroch ein Käferchen. Hui, wie das wimmelte. Der ganze Getreidehaufen wurde lebendig.
Als der Bauer eines Tages die Speichertüre öffnete, da wirbelte wie eine schwarze Wolke ein riesiger Käferschwarm ihm entgegen, hob sich in die Lüfte und schwebte von dannen. „Mein Gott“, schrie der Bauer entsetzt, „das Korn fliegt aus - das Korn fliegt aus!“ In dem Kasten fand er noch die dünnen Hülsen der Körner. Die waren leicht und wertlos wie Spreu. Wie kam es nur, dass er gerade jetzt an jene arme Frau denken musste, die er so unbarmherzig von der Türe gejagt hatte? Zu spät bereute er seine Hartherzigkeit. Nun konnte er nicht mehr das eigene Brot essen - musste es kaufen wie die armen Leute. Auf so einen Bauer zeigte man damals mit Fingern.
2. Der Mitleidige
Es war zur Frühlingszeit. Ein frommer Bauersmann hatte seine Äcker bestellt und die Sommerfrucht gesät. Jetzt ging er im Kornspeicher herum, guckte in alle Kasten, schätzte und rechnete zusammen, wieviel Brotgetreide ihm noch bis zur Ernte verbleibe. Endlich schüttelte er das Haupt und sprach zu sich selber: „Wenig - wenig. Wir müssen das Brot ordentlich sparen, sonst mögen wir nicht zusammen.“
Während er so sann und sich sorgte, polterte jemand die Stiege herauf. Wie er aufblickte, stand der Nachbar unter der niedrigen Türe und redete also: „Ich möchte gern ein Blätzli Sommerweizen säen, aber ich habe keinen Samen. Er ist dies Jahr so rar. Wollt ihr so gut sein und mir aus der Not helfen?“ Der Bauer antwortete: „Du kommst zum Lätzen. Soeben habe ich mit Schrecken festgestellt, dass mir wenig Getreide mehr verbleibt und wir von heute an selber das Brot sparen müssen. Es tut mir leid, ich hätte dir gerne geholfen, aber es geht nicht.“ Da liess der Nachbar traurig den Kopf sinken und ging enttäuscht von dannen.
Der Bauer schaute ihm eine Weile nach. Der arme Mann dauerte ihn. Er hatte am steinigen Hang ein verschuldetes Gütlein und schaffte fast Tag und Nacht, um seine grosse Familie durchzubringen. Ja, dem hätte er gerne geholfen. Aber wenn man nicht kann. - Da fiel sein Blick auf die Inschrift über der Speichertüre.
0 parmhertziger Gott
Syg unz gnädig in aller Noth.
Wie oft war er achtlos an dieser Schrift vorbeigegangen. Heute aber zwang sie ihn zum Nachdenken, und er verstand, was sie sagen wollte: „Du musst zuerst barmherzig sein gegen deine Mitmenschen, dann wird Gott auch mit dir gnädig sein. Not hat man auf diesem Bauernhofe nie gekannt, obwohl es manchmal Missernten gab. Deine Vorfahren waren Bauersleute von altem Schrot und Korn. Die hätten nie einen Dürftigen abgewiesen. Trotz ihrer Freigebigkeit - oder gerade deswegen - waren sie zu Wohlstand gelangt. Auch du bist sonst ihrem Vorbilde gefolgt. Aber heute warst du klein und verzagt und deiner Ahnen unwürdig.“
So mahnte die alte Inschrift über der Speichertüre - und sie tat es nicht umsonst. Der Bauer hielt die Hände trichterförmig an den Mund und rief dem Nachbar zu: „Heh! Komm zurück - komm zurück!“ Er kam. Jetzt stand er wieder im Speicher. „Halte den Sack auf“, gebot der Bauer. Dann ergriff er die Schaufel und warf hinein, bis der Sack fast voll war. Der Nachbar war hocherfreut und sprach mit einer Stimme, die vor Rührung zitterte, andachtsvoll den alten, sinnigen Dankeswunsch:
„Vurgälts Gott hundergtusig Male,
Tröscht Gott die arme Seele,
Welli Gott as der nüt as münder hiiget.”
Das klang wie ein Gebet...
Wenige Tage später räumten Bauer und Bäuerin im untern Stock des Speichers auf. Nach getaner Arbeit setzten sie sich auf eine Truhe, ruhten und plauderten. Da hörten sie über sich in der Kornkammer ein merkwürdiges Geräusch. Es knisterte und rieselte so seltsam. „Hörst du’s da droben?“ fragte die Frau. „Am Ende sind uns noch Mäuse oder Ratten hinter das Korn geraten. Das fehlte noch.“ Der Bauer erhob sich, stieg die Treppe hinauf und öffnete die Türe. Da stiess er einen Freudenschrei aus und rief: „Komm schnell herauf, komm!“ Nun standen sie da, Hand in Hand, und staunten auf das Wunder: Der Kasten, aus welchem dem armen Nachbar sein Sack gefüllt worden, er war schwappvoll, nein, er floss über, und noch immer rieselten die Körner auf den Boden und bildeten dort einen kleinen Hügel, der sich höher und höher wölbte, bis er selber so hoch wie der Kasten war. Dann erst hörte das Rieseln auf.
Schauer ergriff die beiden Zeugen des Wunders. Lange brachten sie kein Wort hervor. Endlich flüsterte der Bauer: „Des Nachbars Dankeswunsch hat sichtbar sich erfüllt. Nie mehr, selbst wenn ich darum darben müsste, soll ein Armer mit leeren Händen von meinem Hofe gehen.“
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch