In den Jahren 1838-40 baute der französische Ingenieur Chaley die Drahtbrücke über die Galternschlucht. Das war ein Ereignis für Freiburg. Jeden Tag standen hunderte von müssigen Zuschauern um den Arbeitsplatz. Da wurden zuerst die Schächte aus dem Felsen gehauen, in denen die Kabel verankert werden sollten. Dann spannte man die Drahtseile über den 75 Meter tiefen Abgrund. Das lockte die Neugierigen erst recht herbei. Die Arbeiter waren teils Freiburger, teils Franzosen. Eines Tages spielte sich in der Mittagspause ein Zwischenfall ab, der den Zuschauern einen ordentlichen Nervenkitzel verursachte.
Ein Franzos wagte sich barfuss, von der linken Talseite aus, auf eines der Drahtseile hinaus. Langsam, Schritt um Schritt, ging er immer weiter. Einige seiner Genossen riefen ihm zu, er solle umkehren, andere ermunterten ihn, nur vorwärts zu gehen. Und er ging. Mit ausgespannten Armen das Gleichgewicht stützend, rückte er Fuss um Fuss immer weiter vor, bis er endlich oben auf dem Felsen anlangte. Ein Jubelschrei tönte zu ihm herauf. Der Franzos aber stellte sich auf den Rand des Felsens, hielt die Hände an den Mund und rief stolz hinüber: „Wenn ein Schweizer das nachmachen kann, so soll er kommen!“ Die Franzosen klatschten wie besessen Beifall und begannen über die Schweizer zu spötteln und zu lachen. Plötzlich sprang ein Sensebezirkler auf, warf den Kittel von sich, krempelte die Hemdärmel auf und zog Schuhe und Strümpfe aus. Dann zündete er sein Pfeifchen an, ergriff eine Stossbahre und begab sich mit dieser auf das schwankende Drahtseil. Schritt um Schritt rückte er vor. Atemlos schauten ihm hunderte zu. Jetzt stand er mitten über dem Abgrund. Qualmend und rauchend wie eine Lokomotive nahm er den steilen Anstieg. Immer weiter, immer höher ging es. Frauen und Mädchen schrien, zitterten und durften nicht mehr zuschauen. Endlich langte er oben auf dem Felsen an. Ein mächtiger Beifallsturm erbrauste. Der Sensler aber stellte sich an den Rand des Felsens, hob mit beiden Armen die Stossbahre hoch empor und rief hinüber: „Wenn ein Franzos das nachmachen kann, so soll er grad kommen.“ Ein Jubelruf, der nicht mehr enden wollte, ein Klatschen und Tücherwinken war die Antwort der begeisterten Menge.
Dem mutigen Sensler hat aber bis auf den heutigen Tag noch kein Franzos dieses Wagestück nachgemacht.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch