Im Burgerwalde machte man von Zeit zu Zeit grössere Kahlschläge. Auf diesen Lichtungen wuchsen dann zuerst Erdbeer- und Heidelbeerstauden. Später machten sich Himbeer- und Brombeersträucher breit und nahmen den Boden in Besitz. Zur Sommerszeit tummelte sich auf diesen Plätzen das fröhliche Volk der Beerenleser: Buben, Mädchen und Frauen. Da hörte man lachen, reden, jauchzen, singen - hier deutsch, dort welsch. Manchmal war auch das feine Klingen von kleinen Glöcklein zu hören, Glöcklein wie man sie den Ziegen umhängt. Die tönten bald fern, bald nah, und doch waren keine Ziegen zu sehen, man mochte mit den Augen suchen, wie man wollte. Dann sagten die Beerenleser: „Hört, die Zwerge hüten ihre Ziegen. Das Wetter bleibt gut.“
- Zwergleins Spass
Eine Mutter ging einst mit ihren Kindern in den Burgerwald, um Beeren zu sammeln. Sie hatten keinen guten Tag. Den ganzen Vormittag zogen sie von einem Beerenplatz zum andern. Aber sie fanden nichts, alles war schon abgelesen. Um die Mittagszeit verbargen sie ihre noch leeren Körbe und Kratten in einem Gebüsch und schickten sich an, am Ufer des nahen Bächleins ihr Mittagsmahl zu bereiten. Ein Feuer wurde angezündet und die Pfanne mit der Milch aufgesetzt. Alle sassen oder knieten im Kreise herum, plauderten und nährten die Flamme mit dürrem Reisig. Auf einmal sauste ein Tannenzapfen ins Feuer. Funken und Asche stoben auf. Erschrocken fuhren alle empor und hielten Ausschau nach dem Übeltäter. Doch niemand war zu sehen und nichts zu hören. Man beruhigte sich und plauderte weiter. Da plötzlich flog ein Tannenzapfen daher und fiel mitten in die Pfanne, dass die heisse Milch hoch aufspritzte. Gleichzeitig ertönte in der Nähe ein helles Lachen: Hihihihii.
Die Kinder hatten beobachtet, dass das Geschoss just von jenem Orte herkam, wo die Körbe versteckt waren. Schnell eilten sie hin. Da sahen sie gerade noch, wie ein Zwergenmannli flink durch die Himbeerstauden beinelte und im Wald verschwand. Jetzt entdeckten sie auch, was der Kleine hier getan. Ihre Augen weiteten sich vor Staunen, und alle stiessen miteinander einen Freudenruf aus. Das Zwerglein hatte sich einen köstlichen Spass erlaubt. Es hatte alle Körbe und Kratten bis zum Rande mit dunkelroten, duftenden Himbeeren gefüllt.
2. Zwergleins Zorn
Kathri, die alte Beerenleserin, erzählte:
Als ich noch jung war, da habe ich einmal im Grauloch (Burgerwald) Beeren gesammelt. Es war ein guter Tag. Was ich suchte, fand ich in Menge. Langsam rückte ich immer weiter den Hang empor. Ich sah nicht auf die Umgebung. Meine Augen waren nur auf die Arbeit gerichtet. Auf einmal befand ich mich vor einem grossen Steinblock. Ich blickte hinauf und schreckte zusammen. Auf dem Steine stand ein Zwerg. Er lächelte mir gutmütig zu, und meine Angst verging. Ich schaute das Männlein genauer an. Es war etwa so gross wie ein Bübel, der das zweite oder dritte Jahr in die Schule geht. Aber sein Gesicht sah sehr alt aus. Es bestand aus lauter Runzeln und erinnerte mich an Eichenrinde. Das lustigste an dem Menschlein schien mir jedoch sein grauer, zerzauster Bart zu sein, der fast bis auf den Boden reichte. Plötzlich schoss mir dieser Gedanke durch den Kopf: Das wäre ein Anblick, wenn bei uns jeder zehnjährige Schnuderi mit einem solchen Bart in die Schule ginge ---. Ich musste gerade laut herauslachen. Der Zwerg glaubte wohl ich mache mich über ihn lustig. Er schnitt auf einmal ein böses Gesicht, hob drohend den Finger und --- verschwand.
Mein Kopf aber begann heiss und heisser zu werden. Ich eilte nach Hause und legte mich ins Bett. Das Fieber brannte die ganze Nacht in mir. Am Morgen war mein Kopf hoch aufgeschwollen und rot wie eine überreife Erdbeere.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch