Die Prinzessin der alten Zeit

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal ein König, der hatte nur einen Sohn. Den liess er studieren, so lang und so viel, bis kein Schulmeister ihm mehr etwas beibringen konnte. Dann liess der König ausschreiben, was sein Sohn alles wusste und fügte dann hinzu, wenn einer mehr als sein Sohn, der Prinz Giuan, wisse, so müsse er sich bei ihm melden. Diese Anzeige gelangte auch in die Hände des Prinzen Gundi. Der glaubte, drei Wörter mehr zu wissen, und er schrieb dies dem König, mit seiner Adresse dazu. Schnell schickte der König seinen Prinzen Giuan zu Prinz Gundi, um ihn diese drei Wörter lernen zu lassen. Es ging nicht lange, so wusste er die auch.

Jetzt gingen die beiden Prinzen mal für eine kurze Weile auf die Jagd, mal schauten sie sich die Reichtümer und Kostbarkeiten im Schloss an. So kam der vereinbarte Tag, an dem Prinz Giuan nach Hause musste. Prinz Gundi begleitete Prinz Giuan ein Stück weit. Der gab unterwegs den Befehl, eine Pistole mit doppeltem Lauf zu kaufen und sie im Sack zu verstecken. Als Prinz Gundi nach Hause wollte, drängte Prinz Giuan ihn lange, noch ein Stück mitzukommen. Prinz Gundi ging also mit bis in den Wald hinein. Jetzt wollte er umkehren, aber da setzte Giuan seine geladene Pistole Gundi auf die Brust und sagte: «Entweder kommst du mit mir ins Schloss, oder ich erschiesse dich! Mach, was du willst! Du bist für mich wie ein Bruder, und was mein ist, ist auch dein, und auch für meinen Vater sollst du wie ein Sohn sein!» Gundi dachte, es sei schliesslich doch das Beste, mit Giuan ins Schloss zu gehen.

Giuan erzählte seinem Vater, was sie abgemacht hatten, und dem Vater war dies recht.

Eines Tages sagte der König den beiden Prinzen, dass sie überall im Schloss herumgehen und die Räume anschauen dürften, nur in das und das Zimmer dürften sie nicht. Er gehe inzwischen weg, um die Prinzessin der alten Zeit zu suchen.

Und dann reiste er weit weg, und die Prinzen gingen überall im Schloss herum, bis sie dann zum verbotenen Zimmer kamen. Der Schlüssel steckte daran, und Prinz Giuan sagte, er wisse nicht, was darin sei und warum sein Vater es ihnen verboten habe. «Aber wir gehen trotzdem hinein!» sagte er ganz entschieden. Prinz Gundi entgegnete, sie seien verpflichtet, dem Vater zu gehorchen, und er wolle nicht hinein. Aber schliesslich setzte Prinz Giuan sich durch, und beide Prinzen traten ein. Drinnen gab es nichts anderes als einen Tisch in der Mitte mit einem riesengrossen offenen Buch darauf. Die Prinzen begannen darin zu blättern, es nahm sie wunder, was es mit dem Buch auf sich hatte.

Aber auf einmal steht der König vor ihnen und fragt, weshalb sie nicht gehorcht hätten. Da entschuldigen sich beiden Prinzen so gut als möglich. Jetzt sagt der König, er hätte auf der Stelle die Prinzessin der alten Zeit haben können, wenn sie nicht hinein wären. Deshalb jage er sie jetzt davon, und sie dürften nicht eher zurück, bis sie die Prinzessin der alten Zeit gefunden hätten.

Die beiden Prinzen machen sich also auf den Weg, aber sie wissen nicht wohin. Sie haben wohl lange studiert, aber von der Prinzessin der alten Zeit haben sie noch nie etwas gehört.

Spät am Abend kommen sie zu einer Hütte, und sie gehen in die Stube, um zu fragen, ob sie übernachten könnten. Es ist niemand da, auf dem Tisch brennt ein ganz schwaches Talglicht mit kaum Fett drin. Sie warten hier ein wenig und glauben, dass wohl jemand komme, die Lampe mit Talg nachzufüllen. Aber niemand taucht auf. Jetzt beschliessen sie in der Stube zu schlafen. Giuan legt sich zuhinterst ins Bett und beginnt kräftig zu schnarchen. Plötzlich öffnet sich die Tür, und drei Mädchen kommen herein, eine nach der andern. Die Letzte, die Jüngste, sagt: «Guten Abend, Schwestern! Was gibt es Neues?» Die Älteste, die Erste, sagt, dass Prinz Giuan und Prinz Gundi hier im Bett liegen. «Aber was machen sie denn?» fragt darauf schnell die Jüngste. «Das braucht so ein Knirps wie du nicht zu wissen!» gibt die Älteste zur Antwort. «Doch! Du musst es mir sagen!» entgegnet die Jüngste. «O! Sie gehen die Prinzessin der alten Zeit suchen», antwortet die Älteste. «Nun, wo ist die denn?» fragt die Jüngste. «So ein Knirps wie du muss nicht alles wissen!» erwidert die Älteste. «Doch, doch, sag es mir!» wiederholt die Jüngste. «Nun, wo ist sie?» fragt die Kleine. «So ein Knirps wie du muss nicht alles wissen!» antwortet die Älteste. «Doch, doch, sag es mir doch», wiederholt die Kleine. «Nun, sie ist in dem und dem Schloss», sagt die Älteste. «Was muss man tun, um sie zu fangen?» fragt die Jüngste. «Um sie zu fangen, muss man vor elf Uhr nachts vor dem Schloss sein; dann öffnen sich alle Tore ganz, und sie bleiben offen bis um Mitternacht. In dieser Stunde kann man die Prinzessin leicht herausholen.» Jetzt sind alle drei Schwestern auf und davon. Prinz Gundi hat nicht geschlafen und alles mitbekommen.

Am andern Morgen standen die beiden Prinzen sehr früh auf und machten sich auf den Weg. Prinz Gundi war immer um einen Schritt voraus, aber Prinz Giuan ärgerte sich darüber, da sie den Weg nicht kannten. Als es begann, elf Uhr zu schlagen, standen die Prinzen vor dem Schloss. Die Tore öffneten sich, sie gingen hinein und nahmen die Prinzessin aus dem Bett. Erst draussen vor dem Tor zogen sie ihr schnell die Kleider über, und dann gingen sie zur Hütte. Spät in der Nacht kamen sie dort an, sie gingen in die Stube und fanden auf dem Tisch die Lampe, die ganz schwach brannte, doch es war niemand da. Sie gingen ins Bett, Prinz Giuan und die Prinzessin schliefen sofort ein. Prinz Gundi jedoch wollte wach bleiben und zuhören, was die Mädchen einander erzählten.

Später kommen sie wieder, die Älteste voraus, die Jüngste zuletzt. Die sagt wieder: «Guten Abend, Schwestern! Was gibt’s Neues?» Die Älteste antwortet: «Prinz Giuan und Prinz Gundi liegen mit der Prinzessin der alten Zeit im Bett und schlafen.» «So, so! Haben sie sie also bekommen können? Sie haben anscheinend gemacht, was du gesagt hast? Doch was wird der König dazu sagen?» «So ein Knirps wie du muss nicht alles wissen!», ist die Antwort. «Doch, doch! Sag es mir auch», drängelt die Jüngste. Da sagt die Älteste: «Morgen wenn die Prinzen mit der Prinzessin schon ein Stück weg sind, werden sie zwei Rittern des Königs begegnen. Der hat schon lange gewusst, dass die Prinzen die Prinzessin bei sich haben. Diese beiden Ritter bringen für die Prinzen zwei wunderschöne Gewänder mit, doch die sind vergiftet. Wenn die Prinzen sie anziehen, so sind sie verloren. Um sich zu retten, müssen sie die Gewänder über den Kopf nach hinten werfen, dann werden sie verschwinden, niemand sieht sie mehr. Ist das vorbei, so kommen sie mit der Prinzessin vor das Schloss des Königs. Der König wird jedem Prinzen einen Becher mit gutem Wein anbieten. Doch da ist Gift drin. Die Prinzen müssen die Becher gleichzeitig über den Kopf hinweg aus- schütten, darauf verschwinden sie; man wird nichts mehr sehen. Und dann wird ein derart stinkender Wind wehen, dass der König für immer verschwindet.» «Welcher wird denn die Prinzessin heiraten?» fragt die Jüngste. «Das weiss der, welcher sie heiraten will. In der ersten Nacht aber, wenn sie miteinander schlafen, wird ein grosser schwarzer Vogel zum Fenster hereinkommen. Der wird auf die Prinzessin zufliegen und ihr einen zünftigen Strich auf die Stirn versetzen. Dann muss jemand diesen mit einem Tuch abwischen, damit die Prinzessin schön wird und guter Laune ist, sonst ist sie so hässlich, dass niemand bei ihr bleiben kann.»

Da ruft die Älteste: «Prinz Gundi!» Aber es kommt keine Antwort. «Prinz Gundi!» ruft sie nochmals und zum dritten Mal, und dann sagt Prinz Gundi: «Was?» Da sagt die Älteste: «Du hast nicht geschlafen und alles gehört. Geh, mach es so! Aber sag niemandem etwas, sonst wirst du zu Stein.» Dann gehen die Schwestern hinaus und davon.

Am andern Morgen standen alle drei auf und gingen zum Schloss. Bald begegneten sie zwei Rittern des Königs. Die machten grosse Komplimente und sagten, dass der König schon erfahren habe, dass sie die Prinzessin bei sich hätten, und er lasse sie hier mit zwei neuen Gewändern willkommen heissen. Prinz Giuan wollte seines gleich anziehen, aber Prinz Gundi sagte: «Wir sind Brüder, komm gib’s her und lass mich sehen, ob es gleich wie meines ist!» In dem Augenblick schmiss Prinz Gundi beide Gewänder über den Kopf hinweg, so dass sie für immer verschwanden. Prinz Giuan war damit nicht einverstanden, und er nannte den andern einen Trottel. Jetzt kamen sie vor das Schloss, der König gratulierte ihnen noch und noch und tischte zwei Becher Wein auf. Prinz Gundi packte beide und warf sie über den Kopf zurück. Jetzt gab es einen derart stinkenden Wind, dass der König, der ein Zauberer war, für immer verschwand.

Darauf gingen die Prinzen mit der Prinzessin ins Haus, und sie blieben dort einige Tage. Dann sagte Prinz Giuan zu Gundi, er solle die Prinzessin heiraten, sie gehöre ihm, er habe gewusst, wo sie sei und was zu tun gewesen sei, um sie zu bekommen. Er habe davon nichts gewusst. Aber Prinz Gundi überliess dem Prinzen Giuan die Prinzessin. Da machten sie eine prächtige Hochzeit.

Am Abend, bevor er sie zu Bett gehen lässt, legt sich Prinz Gundi mit einem Tuch unters Bett. Bald darauf schläft das Brautpaar ein. Da kommt der schwarze Vogel und versetzt der Prinzessin einen zünftigen Strich auf die Stirn. Prinz Gundi wischt den Strich gut ab, aber in dem Augenblick, als er den Arm zurückzieht, streift er Prinz Giuan. Der wacht auf und schreit fuchsteufelswild: «Ich habe dir freiwillig die Prinzessin überlassen, aber du hast sie nicht gewollt, jetzt kannst du sie schon in der ersten Nacht nicht in Ruhe lassen. Dafür wirst du zum Tod verurteilt!» Prinz Gundi antwortet nur: «Ich habe alles nur für dein Wohl getan!» Aber das kann Prinz Giuan nicht verstehen.

Der festgesetzte Tag war da; in einem Zimmer im Schloss oben hätte Prinz Gundi hingerichtet werden sollen. Da erzählte Gundi des langen und breiten alles, was er von den drei Schwestern in der Hütte gehört hatte, aber kaum hörte er auf zu reden, wurde er zu Stein. Da merkte der Prinz, was es geschlagen hatte, aber es war zu spät. Prinz Gundi war halt ein Stein.

Nach einiger Zeit gebar die Prinzessin zwei Prinzen. Das war für die Eltern eine grosse Freude, aber jener Stein, den sie immer vor Augen hatten, machte sie traurig.

Da sagte eines Tages Prinz Giuan zu seiner Frau: «Ich hätte Lust zur Hütte der drei Schwestern zu gehen, um herauszukriegen, ob sie nicht ein Mittel wüssten, das diesen Stein wieder in den Prinzen Gundi verwandeln könnte!» Der Prinzessin war das recht, und er ging.

Er findet wiederum das gleiche schwache Licht und legt sich dann schlafen. Nach einer Weile kommen die Schwestern, und die Jüngste sagt: «Guten Abend!» und fragt, was es Neues gebe. Da sagt die Älteste, dass Prinz Giuan im Bett liege und ein Mittel wissen wolle, um den Stein wieder in den Prinzen Gundi zu verwandeln. «So, so!» antwortet die Jüngste, «wie es scheint, hat Prinz Gundi ausgeplaudert, was du ihm gesagt hast; wie könnte man denn das machen; gibt es Mittel dafür?» «Ja!», antwortet die Älteste, «wenn Prinz Giuan seine beiden Kinder nähme und sie schlachten würde und das Blut über den Stein fliessen liesse, so käme Prinz Gundi wieder zum Vorschein.» Dann verschwinden die Schwestern. Prinz Giuan dachte im Bett, das könne er schon nicht tun, seine eigenen Kinder umbringen, um Gundi zu erlösen. Er ging nach Hause, erzählte alles seiner Frau und fügte dann hinzu, dieses Mittel könnten sie , Die Frau aber meinte, sie seien verpflichtet, Gundi zu erlösen, der habe ihnen ja viel Gutes getan.

Kurz und gut, sie wurden sich einig, ihre Kinder ihre Kinder zu schlachten und das Blut über den Stein tropfen zu lassen. Und auf einmal machte Gundi die Augen auf und war da. Er merkte sofort, dass mit dem Prinzen und der Prinzessin etwas nicht stimmte und fragte, wo es denn fehle. Dann sagten sie, sie hätten halt ihre Kinder töten müssen, um ihn zu erlösen.

Darauf geht Gundi zu den drei Schwestern, um herauszufinden, wie man die Kinder wieder lebendig machen könnte. Er legt sich wieder ins Bett, und nach einer Weile kommen sie. Die Älteste sagt wieder, um die Neugier der Jüngsten zu stillen, Prinz Gundi sei im Bett, er wolle ein Mittel wissen, um die Kinder wieder lebendig zu machen. «Doch wie könnte man das machen?», fragt die Jüngste weiter. «Das ist schon möglich», gibt die Älteste zur Antwort, «man muss die Schnitte, welche die Kinder beim Schlachten abbekommen haben, mit seidenem Faden zusammennähen und dann zu dem und dem Felsen gehen und Wasser darüber tropfen lassen!» Jetzt ruft die Älteste den Prinzen dreimal beim Namen, und beim dritten Mal fragt er, was sie wolle. Da sagt sie: «Wir haben für dich viel Gutes getan; jetzt kannst du etwas für uns tun und uns erlösen!» Da verspricht Gundi, sein Möglichstes zu tun. Da sagt die Älteste: «Wir sind drei Seelen, und um uns zu erlösen, musst du etwas tun, was dir Angst und Schrecken einjagt, aber möglich ist es. An dem und dem Abend kommst du in diese Hütte. Dann wirst du hier kein Licht und kein Bett finden. Aber mitten in der Stube steht ein Stuhl. Auf den musst du dich setzen. Dann wird eine riesige Schlange hereinkommen, die dich anspringen will. Du musst genau zielen, um ihr einen Kuss auf die Zunge zu geben, und dann wirst du ein schönes Mädchen neben dir haben! Nach einer Weile wird eine andere Schlange, noch grösser und noch schrecklicher, zur Tür hereinkommen, sie wird um dich herumkriechen und versuchen, dich anzuspringen. Und der musst du einen Kuss auf die Zunge geben, und dann hast du das zweite schöne Mädchen neben dir. Endlich wird die dritte Schlange hereinkommen, eine grosse, grässliche und böse. Auch der musst du einen Kuss auf die Zunge geben, und dann hast du drei Mädchen neben dir, nämlich uns drei Schwestern. Du musst dann mit allen dreien ins Schloss gehen; heiraten kannst du die, welche du willst, aber die beiden andern musst du auch im Schloss wohnen lassen!» Dann sind die Schwestern auf und davon.

Gundi ging nach Hause, er machte zuerst die Kinder lebendig, aber er war immer noch ganz traurig. Mit Schrecken dachte er an die Schlangen.

Endlich ist der abgemachte Tag da, er nimmt Abschied vom Prinzen Giuan und der Prinzessin und sagt, er wisse nicht, ob er wieder zurückkehre. Er müsse etwas Schreckliches durchmachen. In der Hütte findet er nur den Stuhl, und er setzt sich darauf. Langsam kommt es 'tric, trac' die Treppe herunter, die Tür öffnet sich, und eine grosse Schlange mit herausgestreckter Zunge kriecht herein und um ihn herum. Da trifft es sich, dass die Schlange genau bei ihm ist. Schnell gibt er ihr einen Kuss auf die Zunge, und ein schönes Mädchen steht neben ihm. Mit einem noch lauteren Gepolter kommt die zweite Schlange herein. Aber auch die bekommt ihren Kuss von Gundi, wenn auch mit Angst und Grauen. Jetzt ist das zweite Mädchen da. Die dritte Schlange ist so gross, dass ein paar Treppenstufen einbrechen, als sie von der Laube herunterkommt. Als Gundi sieht, dass diese Schlange, die noch grössere und stärker funkelnde Augen hat, um ihn herumkriecht, wird er ohnmächtig. Aber zum Glück trifft er mit seinem Mund die Zunge der Schlange, also hat es mit dem Kuss geklappt.

Nun standen alle drei Mädchen neben ihm. Er ging mit ihnen ins Schloss und überlegte sich, welche er heiraten wolle. Die Mittlere wollte er nicht, denn die hatte nichts erzählt. Die Älteste hatte zwar viel gesagt, aber wenn die Jüngste nicht alles aus ihr herausgeholt hätte, so hätte sie alles für sich behalten. Deshalb heiratete er die Jüngste und liess die beiden andern bei sich auf dem Schloss wohnen.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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