In frühen Zeiten waren Fehden zwischen den Einwohnern zweier Talschaften gang und gäb. Manchmal zogen die einen in Wehr und Waffen zum Nachbarn und nahmen mit, was an sie lief, Vieh oder andere Fahrnis, und gar oft floss viel Blut. Es kam den Lauterbrunnern nicht darauf an, über die hohen Grenzberge hinüber die Walliser heimzusuchen.
Als sie ihre Kirche fertig hatten, da fehlten die Glocken, die sie nicht selber machen konnten, und die am meisten von den raren Batzen gekostet haben würden.
Zu dieser Zeit war die Wetterlücke, der weite Sattel zwischen Breit- und Tschingelhorn, noch nicht vergletschert wie heutzutage.
Die Talleute standen damals schon lange mit den Lötschern in Fehde, und da zogen vieldutzend Kernenfester von der Bernerseite hinüber und schlugen die Lötscher in ihrem Tal ans Schwert. Auf dem Heimweg über das hohe Gebirge nahmen die Lauterbrunner auf Gerüsten zwei Lötscherglocken mit. Sie trugen die beiden hinauf auf die Wetterlücke. Es war schon weit hinten im Herbst; sie glaubten, sie hätten es gewonnen. Da machte aber der Föhn auf einmal, dass sie in engen Schuhen waren. Der orgelte in den Flühen und peitschte ihnen den Wetterschmeiss dermassen um die Ohren, dass sie eine Tregi oben lassen mussten. Die grössere Glocke aber, die brachten sie glücklich ins Tal.
Ein herber Winter stieg mit ihnen nieder in den Grund. In den Ustagen und selbst im Sommer drauf wurde die Wetterlücke nicht mehr schneefrei und ist es seither nie mehr geworden. Die zweite Glocke blieb oben, ist nun tief im Gletschereis vergraben.
Die grössere hängt noch heute im Turm der Talkirche von Lauterbrunnen und heisst die Lötscherglocke. Viel später wollten die Walliser sie im Rückkauf mit Geld aufwägen, aber die Lauterbrunner waren nicht gewillt, auf die von ihren Vorvätern so seltsam erworbene Glocke zu verzichten.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.