Wo ist das schöne Bergdorf auf Wengernalp, in dessen von der Sonne brändelbraun gebrannten Häusern es so glücklich zu leben war? Es stand einmal auf dem Rubenstand beim Schlafbühl, umgeben von ernsten Bergwäldern, und bis dicht an seine Gemarkung stiessen die krautreichen Alpweiden. Die Bewohner lebten einfach und sparsam und wussten, dass der Weg zum Gulden über die roten Kreuzer geht. Sie kamen im Herbst immer dazu, Viehware und Alperzeugnisse an Gegenwert zu bringen, und so hatten die meisten Haus und Hof und alles ledig, waren keinen Batzen darauf schuldig und hatten kaum je ein Widerwort miteinander. In der frühesten Morgenfrühe wurde im Dörflein auf der Wengernalp die Arbeit mit Sang und frohem Jauchzer begonnen. Nach Feierabend sassen die Bauern geruhsam bis in die sinkende Nacht beim Abendsitz, und dann konnte man des Öftern in den hellleuchtenden Schneehorn- und Guggifelsen drüben das Echo des Alphorns rollen und verklingen hören, bald ernst und feierlich, bald in hellem Jubel. Die Sonne schien damals viel mehr Wärme ins Land als heutzutage; der Eiger-, der Mönch- und Jungfrauenberg, das Lauberhorn und der Tschuggen umgaben wie ein Fächerbogen die hilbe Gegend des Dörfleins, in dem kein Mangel herrschte, weder an Brot noch an Boden. Wer Vieh hier sommern wollte, musste bedeutend mehr bezahlen als anderswo.
Die Bewohner aber gedachten auch des Schöpfers aller Dinge. Auf der Höhe, die man heute den Schlafbühl nennt, bauten sie dem heiligen Wendelin eine Kapelle aus hellem, hartem Hohbergholz, wo sie allsonntäglich eine kurze Andacht hielten, und wohin viele den Bittgang machten. Ein schöner, steinbelegter, breiter Weg führte zum Kirchlein hinauf, und von hier ging ein Kilchweg bis hinaus nach Gsteig zum grossen Gotteshaus der Kilchöri.
Aber einige Bauern von Itramen auf der Grindelwaldseite der kleinen Scheidegg, von denen man sagte, dass sie einander kaum die Laus im Kraute gönnen, geschweige denn Fleisch, die schauten scheelen Augesauf den Wohlstand der Wengernälper. Wo sich jenen eine Handhabe bot, da spielten sie den Nachbarn einen bösen Streich.
An einer Frühjahrseinung, als am Abend alle Bauern von Wengernalp in einer Dorfstube zur Besprechung der Alpbestossung besammelt waren, da planten sie nach der Beratung, wie üblich, einen fröhlichen Schmaus abzuhalten und liessen draussen in der Küche zwei Hammen sieden. Die von Itramen hatten davon Wind bekommen und sich einen Plan zurechtgeschnitten. Am Abend der Einung überschritten die Argen schon zum Einnachten die Passhöhe und schlichen, wie Fuchs und Wolf, ins Dörflein. Einer trug einen mächtigen, mit Hobelspänen prall gefüllten Sack auf der Achsel. Ein paar Dutzend Fuss vor dem Hause, worin die Alpeinung tagte, zündeten sie die Späne an, und als der grosse Feuerbubel zum Himmel loderte, da gellten sie in die Finsternis: "Fürio! — Fürio!"
In jähem Schreck broxelten die Bauern zur Stube heraus vor das Haus. Kurz nachher sprangen die Grindelwalder Gassenschlingel hinten zur Küche hinein, warfen die zwei duftenden Hammen in den leeren Spansack und dann — pssst! — durch Nacht und Nebel zurück über die Wasserwende der schwarzen und weissen Lütschine.
Aber aus dem dummen Spass wurde herber Ernst. Mit einem Male sprang auf den hohen Gräten der Föhn auf — huiiii — wild und wuchtig. Stoss um Stoss fiel vom Eigerjoch nieder ins Dörflein, in wirrem Wirbel tanzten die glimmenden Hobelspäne über die
Dächer, und wo sie niederfielen auf die klingeldürren Schindeln, die seit Jahr und Tag so viel Sonne erhalten, da war in Windeseile das ganze Dach ein Feuermeer. Die Bewohner, von Angst erfüllt, flüchteten sich nach der St. Wendelin-Kapelle, aber bald frassen auch hier die Flammen rasend an Fleckenwänden und Balkenwerk. Es knisterte, züngelte, prasselte, zischte — der Föhn stöhnte dazwischen und wirbelte glimmende Schindeln und Sparren wie dürre Heuhalme durch die Luft — schüüzeli — schüüzeli! — (scheusslich) Der russige Rauch stiess an die von der Feuerröti grell erleuchteten Schneeberge. Frauen und Kinder weinten das lautere Wasser, es gab Tod und Tränen sonder Zahl. Was nützte es, dass zu Beginn der Gläubigste von allen die Feuerbannung über die Giebel rief:
Jungfrau Maria, die blieb weiss und rein, Drum stelle, Feuer, dein Wüten ein!
Feuer, wollest legen deine Glut Bei Herr Jesus Christus seinem Blut!
Ich beschwöre dich, feuriger Gast,
Greife nicht weiter, als was du hast!
Da half die beste Bannung nichts; das ganze Dorf war verloren, Scheuer und Stadel, Viehgewerb, Schiff und Geschirr. Nach allen Seiten stoben die Überlebenden auseinander. Sie siedelten sich später in tieferen Lagen wieder an, doch fanden sie sich nie mehr zu einer eigenen Dorfgemeinschaft zusammen.
Noch heute sieht man als letzten Überrest des Dörfleins auf der Wengernalp den Weg, der zur einstigen Kapelle hinauf auf den Schlafbühl führte, aber die rauhen Lüfte trugen die gute Erde fort, und heute ist die Gegend kaum noch Schafweide.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.