So lange die heilige Verena noch zu Solothurn wohnte, konnte sie dorten beim heidnischen Stadtvolke wenig Gutes ausrichten; man liess sie in ihrer Einsiedelei draussen im Jura hinter Fels und Wald an ihrer kalten Quelle sitzen, und hörte nicht auf sie.
Als sie aber einmal bei einer Hungersnot vierzig Säcke Mehl um ihre Klause stellen liess und Krapfen buck, war den Stadtkindern der Weg bald nicht mehr zu weit, sie kamen zahlreich gelaufen und wollten Wecken essen. Jedem schenkte sie einen und sagte ihm dabei den Glauben vor; das Mehl ging ihr nicht aus, und das Brod wuchs den Kindern unter den Zähnen, bald war die erste Kleinkinderschule fertig.
Aber der neidische Teufel will überall seinen Stein darin haben. Ihm war's nicht recht, dass die Jungen anders werden sollten als ihre Alten; er riss also an der Jurawand ein Felsenstück los und schleuderte es gegen die Zelle hinunter. Es blieb jedoch noch gerade oberhalb dem Dache liegen; da ist der schwarze Steinblock heute noch zu sehen mit eben so viel Löchern als der eifersüchtige Teufel damals Krallen hineindrückte.
Nun hatte die Heilige hier ihres Bleibens nicht mehr. Sie nahm sich einen Mühlstein, der an der Solothurner Aare zum Verladen lag, und schwamm auf diesem den Fluss ins Aargau hinunter. Als sie am Städtchen Klingnau vorüber kam, fingen drinnen alle Glocken an von selber zu läuten. Die Klingnauer aber hatten dazumal noch ihre Häuser so gebaut, dass deren Fenster alle ins Städtchen hinein, keine aber auf den Fluss herausschauten; man konnte also die Heilige nicht vorbei fahren sehen und noch weniger sich das Geläute erklären, zu dem nicht die besondere Erlaubnis eingeholt worden war. Sie sprangen zum Stadt-Sigrist und lasen ihm sogleich tüchtig den Kavelantes (keifen und tafeln, cavillari. Kavelantis, ein derber Verweis), sie brachen die Turmtüren auf, um die bösen Buben abzustrafen, die hier mutmasslich eingestiegen waren; aber sie erstaunten nicht wenig, als sie die Glockenstränge von unsichtbarer Hand gezogen hinauf und herab schwingen sahen. Jetzt merkte man ein Wunder, bald entdeckte man auch oben vom Turme aus die Heilige, die draussen im Strome eben an der weiten Landzunge der Insel Au herunter fuhr.
Während man nun eine breite ratsherrliche Beratung eröffnete und eine Reihe von Vorschlägen brachte, unter welcherlei ausgesuchten Ehrenbezeugungen die Verena durch Deputationen begrüsst und ins Städtchen herein geleitet werden sollte, war sie bereits weit entfernt in dem öden Giritz ausgestiegen, einer Aarniederung, die damals nur von giftigen Sumpftieren eingenommen war. Hier hob Verena drei Finger zum Himmel empor und steckte sie in den Sand des Uferlandes. Sogleich entsprang hier das Verenabrünnlein, dessen stets klares Wasser auch jetzt noch für heilkräftig gilt. Nachdem sie selber davon getrunken, liess sie den Kleinstädtern Klingnau's das Nachsehen, und fuhr hinab bis zur Mündung der Aare in den Rhein.
Hier liegt am linken Flussufer das arme Schifferdorf Koblenz. Die Bevölkerung, die ihre Blicke stets auf dem Strome hat, aus welchem sie ihre Nahrung zieht, war der Heiligen sogleich ansichtig geworden, fuhr ihr auf allen Weidlingen entgegen und bemühte sich, sie samt ihrem Mühlsteine ans Land zu rudern. Dann gestanden sie ihr die üble Lage, in der man sich hier gerade befand. Hier hatten nämlich die Juden von ganz Deutschland auf der letzten Grenzscheide des Reiches ihren Begräbnissplatz angewiesen erhalten. Er lag auf einer Stromödung, welche die Judeninsel heisst und die heute noch immer alljährlich von der Judenschaft zu Lengnau und Endingen feierlich besucht werden muss. Allein die Leichen waren so übel bestattet und nur so leicht im Flusssande verscharrt, dass die Luft davon verpestet worden war und eine Seuche ringsum in der Gegend wütete. Diese Krankheit wich alsbald beim Erscheinen Verenas.
Nun beeiferte sich auch das benachbarte Chorherrenstift im Markte Zurzach, hier zu erscheinen, und führte die fromme Frau mit Kreuz und Fahnen in allen Ehren heim in eine ihr mehr gebührende Wohnung. Auch den Mühlstein, auf welchem sie hergeschwommen, wollte man nicht zurücklassen. Man lud ihn auf einen Wagen und hatte ihn bis zum sogenannten Koblenzer-Kreuz gebracht. Hier aber blieben alle Rosse, so viel man deren Vorspannen mochte, unbeweglich stehen, und man war nicht imstande, Wagen oder Stein vorwärts zu schaffen. Aber zurück nach Koblenz liess er sich mühelos bringen, und hier ist er noch. Neben der Kirchtüre sieht man da in der Mauer eine Einsenkung, hinter deren Vergitterung der Stein nebst der Heiligen Bildnis verwahrt ist. Man traut ihm übernatürliche Kraft zu. Auch ist das Gewölbe, das ihn verwahrt, ganz allein unversehrt geblieben, als eine Feuersbrunst Dorf und Kirche einäscherte; es hängt voll wächserner Füsschen und Ärmchen, welche die Leute opfern, wenn einem ihrer Kinder ein Schaden heilen soll. Äber dem Stein sind die Worte zu lesen:
Auf diesem Stein hier auf der Aaren
Die heilig Verena ist gefahren,
Ohne Ruder, Schiff und Schalten,
Wie solches geglaubt die frommen Alten.
In der Krypta des Zurzacher Kirchenchors liegt die Heilige bestattet. Auf ihrem steinernen Grabmal ist sie abgebildet mit fliegenden Haaren; mit der Rechten hält sie einen Wasserkessel am eisernen Tragringe, mit der Linken einen zweireihigen Kamm: Kannten und Strähl, wie man beides nennt. Ihre heilkräftige rechte Hand, in einer Silberkapsel verwahrt, wird jährlich am Osterdienstag in Prozession nach der Kapelle auf der sogenannten Burg getragen; denn hier, wo die Überreste und Mauern eines römischen Vorwerkes lagen, das einst den Rheinübergang zu decken hatte, und wo zugleich die älteste Jochbrücke dieser Gegend durch den Strom ging, soll die Jungfrau ihre Wohnung gehabt haben; hier ist auch dem hl. Mauritius, dem Obersten der Thebaischen Legion, ein Kirchlein errichtet. Ein Stück vom Verenenkrüglein hat der Fürstabt von St. Blasien im Schwarzwalde angekauft und den Zehnten im ganzen Amte Waldshut dafür an das Zurzacher-Stift abgetreten. Darum erhebt dasselbe jetzt noch in den acht badischen Nachbargemeinden den Zehnten: in Kadelburg, Ättwil, Gortwil, Thiengen, Nheinheim, Küssennacht, Dangstetten und Dechtisbohl. Der Gürtel der Heiligen wird im schwäbischen Kloster Roth verwahrt; er bringt Gebärenden Hilfe; er soll den Burgunderkönig Konrad und den Schwabenherzog Burkhard mit Nachkommen gesegnet haben, die sich beide vorher über ihre kinderlose Ehe betrübten.
Das steinerne Verenenkrüglein war lange verloren gewesen, bis es Hirten am Rheinufer wieder auffanden; seitdem ist es heilkräftig und segensreich gewesen. Für den Frommen ist es voll süssen Heiltrankes, für den Bösen schwimmen nur Kohlen darin. Als eine Witwe in Kummertränen erblindet war, die sie ihrem verstorbenen Gatten nachweinte, gaben ihr die Waschungen aus diesem Gefässe das verlorne Augenlicht wieder. Als ein Rosshirt von seinem unbarmherzigen Dienstherrn geblendet worden war, gewährte es ihm die gleiche Hilfe.
Alljährlich am Tage der Heiligen versammelt jede Hausmutter im Badener-Gebiete (Grafschaft) ihre Kinder, und wäscht ihnen der Reihe nach die Köpfe. Dies schützt sie gegen alle spätern Krankheiten des Hauptes. Warzen vertreibt man, indem man darüber haucht und dazu spricht: Frene, Frene, dorra weg!
An der linken Mauer der Zurzacher Kirche ist ebenfalls ein eigener Verenenbrunnen, und sein Wasser ist beim Volke so geschätzt wie Weihwasser. Eine Bergquelle gleichen Namens sprudelt auf dem benachbarten Achenberge; hierher ging der Lieblingsweg der Heiligen. Sie ist eine Patronin aller Fischer, Schiffer und Müller.
Als in dem Hause, wo sie als Magd diente, ein edler Ring verloren gieng, liess sie bei Zurzach einen grossen Rheinsalmen fangen und zur Küche bringen, der jenen Goldring im Leibe hatte. Noch tragen die alten Mühlen und Banngemarkungen im Surbenthale die Wahrzeichen der Heiligen, Krüglein und Kamm. Wenn daher habsüchtige Müller das Wasser, das andern dienen soll, ihren eigenen Rädern zuleiten, so zerreisst es ihnen mit grossem Schaden die Wuhren und geht dann seinem vorigen Laufe nach. Und wenn eine Schnittermagd vom Garbenbinden her über den Rhein heimkehrt und einmal bei der Überfahrt mit dem Weidling umschlägt, so hält ihr die Jungfrau mit der einen Hand den Mund zu, dass sie nicht ertrinke, und führt sie mit der andern ans Gestade.
Auch als Wetterheilige gilt sie; daher heisst die Kalenderregel für den ersten des Herbstmonats: Wenns Vreneli brünnlet, gits en schlächte Herbst. Regnet's an Verena, so gibt's trockne Saatzeit. Wäscht Verena am Vormittag ihren Rock und trocknet ihn Nachmittags wieder, so gibt's guten Herbst. St. Verena sott z'Morndes 'sChrüegli lösen, z'Mittag 'sChitteli tröchne. Wenn's den ganzen Verenatag regnet, darf der Ackerer zum z'Obig (Abendbrod) nicht mehr absitzen (sitzend verzehren).
Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch