Hoch am Berg, der Einsamkeit überlassen, wohnten Rudi und Annemareili mit dem Vater und einer lieben, lieben Mutter. Weitende hiess das Haus und war zu oberst im Tal, drei Stunden vom nächsten Dorf gelegen. Wald und Weide waren ihre Tummelplätze, die Tiere im Stall, Hasen und Vögel im Gehölz die Kameraden einer goldenen Jugendzeit.
Als die Geschwister acht und neun Jahre zählten, starb die Mutter, und als man sie wegtrug, war ihnen, als ob die Sonne und alles Gute und Schöne mit ihr Abschied genommen hätten.
Ein Jahr darauf heiratete der Vater zum zweitenmal und brachte eine Frau ins Haus, eine scharfe giftige Eigendienerin, die keine Liebe für die Sprösslinge empfand und in kratzborstiger Selbstsucht auch ihrem Mann den Tag verdunkelte. Nur sich liebte sie, und die Kinder, die ihr überall im Wege standen, am wenigsten.
Wenn die verstorbene Mutter das Strickzeug beiseite legte und etwa sagte: «Rudi, du kannst mir auf den Schoss sitzen und für Mareili ist auch Platz daneben», wie hurtig klommen sie da auf die Knie, liessen sich streicheln und liebmachen und Geschichten erzählenI Wie war das mit der Stiefmutter so anders geworden! «Mach', dass du fortkommst», keifte sie mit dem Jungen, «geh die Schafe hirten, geh melken, mach dies, mach das!» mit dem Mädchen und liess ihnen keine Musse, gönnte ihnen keine Freude mehr.
Der Vater zog in den Krieg und fand nicht mehr heim. Die böse Frau schaltete und waltete nun allein, verfolgte die Kinder mit ihrer Bosheit und ihrem Geiz, der ihr förmlich aus den Augen loderte, und doch hatte sie zur Ehe nichts beigesteuert als ein Spinnrad und einen grossmächtigen Uhu.
Kohlschwarz und mit zwei Teufelshörnern am Querholz war das Spinnrad; ob sie auch alle Tage es benützte, ein grusliges Möbel, voller Spinnweb und Ungeziefer, und sobald sie das Rad antrieb, surrte es und summte es wie ein Hornissennest, spretzelte und funkte wie ein leerlaufender Schleifstein. Auf ihren Achseln kauerte der Uhu, die Krallen vorn und hinten gespitzt und rollte die feurigen Augen. Sie drehte den Faden und krähte dazu mit einer gelben falschen Stimme:
«Auf dem Rad, auf dem Rad, reit ich einmal, hopsassa,
aus der Stuben, aus der Stuben, ins heisse Land der Beelzebuben.»
Und der Kauz:
«U-u-u- wann fahren wir dem Teufel zu?»
Frierend rieb sie fortwährend die Hände, und die Geschwister mussten auch im Sommer unermüdlich Holz rüsten und den Ofen heizen, dass er fast die Kacheln sprengte. Nie durften sie sich zu ihr an den Tisch setzen und sich so recht weidlich satt essen, und zum Naschen gab es nicht viel, da sie den Küchenschrank absperrte. Der Wald mit seinen süssen Beeren, den Klettertannen, den neugierigen Hasen und dem Geschmetter und Gekreisch der Vögel war ihre Freude und Kurzweil.
Im Winter fing Annemareili, das im Sommer noch wie ein Röslein knospete, an zu kränkeln, es blasste zusehends, schwankte bei dem leisesten Wind, entschlummerte auf dem Ofentritt, stöhnte im Traum, und von der Alten aufgeschreckt, ging es mit Rudi ins Kämmerchen, und sie beteten zusammen: «Liebe Mutter im Himmel, dürfen wir auch bald zu dir kommen?»
Am Tag vor Weihnachten befahl die Stiefmutter das Mädchen ans Rad. «Du lernst mir jetzt spinnen, vorwärts, trapp mit dem Fuss!»
Das Grausen überwindend, setzte es gehorsam den Fuss auf den Tritt; allein das Rad gixte und gaxte und tat keinen Wank.
«Du widerspenstiges Geschöpf, ich will dir den Kolder austreiben!» Sie fasste das Mädchen am Lockenbund und schubste es zur Tür hinaus. Am hellen Tage sah Annemareili die Sterne flimmern, so weh tat ihm der Kopf, und als die böse Frau ums Haus ging, huschte es in die Stube, schleppte das Rad in den gefrorenen Schnee hinaus und gab ihm einen Stoss, dass es die Halde hinabschieferte und plumps in den Bach, der spritzte und zischte, als ob er glühendes Eisen verschluckt hätte. Die Stiefmutter sah das Manöver, schoss wie ein Drache auf das Mädchen los und schleifte es in die finstere Kammer, wo es wie tot niedersank.
«Stiefmutter», schrie Rudi, «O mein Schwesterchen, lass es hinaus!» Hirnwütig sprang er auf sie los und prallte zurück. Der Uhu auf ihrer Achsel spreizte die Krallen und hackte mit dem Schnabel, und die Frau gab ihm einen Blick, der Knabe zitterte am ganzen Leibe.
«Fort, du Nichtsnutz!» brüllte sie, «ich will das Spinnrad wieder haben. Bring es zurück, und ich lass den Trotzkopf aus dem Kämmerchen. Sonst bleibt es, wo es ist, und dich soll der Wolf fressen!»
Wie ein Pfeil sauste Rudi hinab zum Bach, der rauschend aus der Schlucht hervorbrach und das Rad fortgeschwemmt hatte. Er rannte dem Ufer entlang und fragte beim ersten Hof, ob man das Spinnrad gesehen hätte. «Was sagst du?» «Das Spinnrad mit den Teufelshörnern?» «Wart, ich will dir, wir haben nichts mit dem Teufel zu schaffen!» Flink wie ein Wiesel entschlüpfte er den Griffen des Bauers, lief und lief und fragte jeden Menschen aus, sagte aber nichts mehr von den Teufelshörnern.
Er gelangte zu der Stelle, wo ein Steg über das Wasser führte.
Die Wellen hatten ihn fortgerissen, und er turnte tiefer unten über eine Tanne, die der Sturm querüber geworfen hatte. Den Blick stets auf das Wasser gerichtet, eiIte er talab und kam ins Dorf, wo ihm niemand Auskunft geben konnte. Die Leute hatten anderes zu tun, als einem armen verhutzelten Büblein abzuhören. Es war heiliger Abend, und sie mussten den Christbaum schmücken. In ihrer Aufregung und Geschäftigkeit übersahen ihn auch die Kinder, die ihren Sinn auf das Weihnachtskind und die Geschenke gerichtet hatten.
Beim letzten Haus des Dorfes warf ihn die Müdigkeit auf den Stiegentritt, die Tränen flossen ihm über die Wangen, und vor Elend sank ihm der Kopf auf die Brust. Da ging die Tür auf, und ein graues Mütterchen fragte, was ihm fehle. Schnaufend und schluckend bröckelte er hervor: «Hast du etwa ein Spinnrad aus dem Wasser gezogen?»
«Ein Spinnrad? Eben hat es ein Bub aus dem Bach gefischt. Komm und schau selber! Ich wollte es mit der Axt zertrümmern und ins Feuer werfen.»
«Da ist es!» rief Rudi in der Küche und stürzte sich darauf. «In die Flammen mit dem garstigen Gestell!»
Rudi hat nicht mehr zugehört, er lud es auf den Rücken und wollte hinausschiessen.
«Nur nicht so hitzig, Kleiner, wie weit hast du zu gehen?» «Bis ins Weltende.»
«Ums Himmels willen, zu oberst in die Krächen! Du kannst bei mir übernachten und in der Frühe abreisen. Ich zünde jetzt das Weihnachtsbäumchen an.»
«Vergelts Gott, ich darf nicht, ich muss heim!»
«So nimm noch etwas auf den Weg mit, er ist lang und steil, und du siehst so elend aus.»
Sie füllte ihm die rechte Tasche mit Zuckerstücklein, die linke mit rohen Rübchen, sie hatte grad nichts Besseres zur Hand. «So hast du etwas zu schlecken und zu beissen. Wart, wart! » Noch eine runde Schnitte Weihnachtsgebäck gab sie ihm auf den Arm, er schwang das Rad auf den Rücken und lief mit dem Wind um die Wette.
Das Mütterchen guckte ihm nach. Sie hätte ihn doch zurückhalten sollen; aber eins, zwei, hat sie schon nichts mehr von ihm gesehen.
Mit dem Spinnrad und dem goldenen Stollen beladen, eilte Rudi durchs Dorf. Es waren keine Kinder mehr auf der Strasse, und der Tag verging in den Abend. Durch die Fenster lächelten die Weihnachtslichter, Äpfel und goldene Nüsse, und ein Gelüsten überrieselte ihn heiss und kalt, an die Gesimse zu lehnen und ein Schimmerchen von dem fremden Zauber zu erhaschen. Noch nie ward ihm ein Christbaum beschert, und er hatte noch keinen gesehen. Allein, er dachte an sein Schwesterchen in der dunklen Kammer, sputete sich und liess das Dorf hinter sich zurück.
Mählich wurde es finster, das Rad scheuerte seinen Rücken, die Füsse schmerzten, und das Semmelbrot zog ihm das Wasser im Munde zusammen. Ich bringe das Gebäck dem Mareili, und dann essen wir es gemeinsam. Ohne mich würde es ja keinen Bissen anrühren. Ich habe immer noch die Rübchen und die Zuckerbrocken. und jetzt muss ich laufen, damit ich heimkomme, und das Schwesterchen erlöse. Das waren die Gedanken, die ihn zur Eile trieben.
Kaum eine Stunde unterwegs, hörte er etwas knistern, zwei gelbe Augen erglommen und wurden gross und feurig. Auf einmal sperrt ihm ein Wolf den Weg: «Was hast du Gutes in deinen Rocktaschen, dass sie dir so um die Beine plampen?»
Rudi wechselte das Gebäck auf den linken Arm und griff in die Tasche. «Zucker hab ich hier, willst du versuchen?»
Potztausend, wie sperrte das Tier den Rachen auf, schnappte und schnappte, wurde immer höflicher und freundlicher und machte das Männchen.
«So, das ist das letzte Bröcklein», sagte Rudi und kehrte das Futter auswärts. «Ich habe nichts mehr für dich.»
«Wenn du mir nichts mehr gibst», erwiderte der Wolf, «so mache ich auch nicht mehr das Männchen», und galoppierte davon.
Der Wald umdunkelte den Knaben, jäh stieg der Weg bergan. Der Rücken tat ihm weh, die Füsse schleiften. Da schnauft und faucht es, und brum brum klotzt ein dicker Bär am Bord. «Halt, oder ich fress' dich!»
Rudi hielt den Atem an vor Angst, stiess die Hand in die Tasche spürte die Rübchen und zupfte geschwind eins heraus. Als der Bär den Leckerbissen sah, machte er bitte, bitte mit den Tatzen und öffnete den Rachen, es wollte nicht mehr aufhören. Als nun die Rübchen eins ums andere ins Maul flogen und plötzlich eine Pause eintrat, stellte er sich auf die Hinterbeine und ging ringsum, bis Rudi sagte «aus und fertig, ich habe nichts mehr!»
«He nun, wenn das Rübchenmahl zu Ende ist, so tanze ich auch nicht mehr Polka um und um», und mit einem mächtigen Satz verschwand der Petz.
Der Weg wollte nicht enden, der Wald sich nicht lichten. Ober dem Abgrund schraubte der Pfad sich höher, und zum Glück ging der Mond auf und hellte mit seinem Silberschein. Zum erstenmal in seinem Leben erfuhr Rudi, was der Mond für ein trauter Gesell und Kamerad sein kann. Ohne sein Licht wäre er hundertmal erfallen. Wenn nur die Schmerzen im Rücken aufhörten! Das Rad stachelte und drückte, und erbärmlich schnaufend, kroch er wie eine Schnecke.
Eiskalte Luft weht ihm ins Gesicht, und es kommt - wer kommt da - die Stiefmutter! Einen derben Stock in der Hand und den Höcker gesichelt, schnuppert sie mit der Hexennase gewiss nach dem Spinnrad, und ihr Kauz auf der Schulter fächert mit den Schwungfedern, plustert sich auf und rollt die Augen, die wie Höllenfeuer glühen.
Der Junge lässt das Rad fahren und springt abseits.
Als sie das Spinnrad wiedersieht, heult sie vor Freude, richtet es auf, umarmt es und hoppst zwischen die Teufelshörner. Der Uhu krächzt:
«U-u-u- Jetzt fahren wir dem Teufel zu.»
In einem grossen Bogen sausen sie in die Schlucht hinunter, es blitzt und kracht und donnert, und ein Wirbelwind trägt Rudi mit sich fort, er sieht und hört nichts mehr.
Als er die Augen öffnet, steht Annemareili neben ihm und sagt mit süsser Stimme: «Komm, Brüderchen, wir wollen heim zur Mutter», fasst ihn an der Hand und ist mit ihm bergauf gewandert, federleicht und schmerzlos. Er strauchelt nie mehr, hat keine Müdigkeit mehr im Rücken und in den Füssen, sie steigen in eine seltsame Helle hinauf. Die Vögel pfeifen mitten im Winter, Eichhörnchen huschen über den Weg, Spechte umflattern sie und picken das Weihnachtsbrot, das Mareili ihnen bröckelte. Kein Wort fliesst über die Lippen Rudis; er muss allzeit sein Schwesterchen betrachten, das weisse Kleidchen und die roten Wangen und die Augen, o die schönen glänzenden Augen!
«Pass auf!» sagte er einmal, «sobald der Bach kommt, müssen wir über die Tanne klettern.»
«Wir sind schon über den Bach», sagte Annemareili. Er schwieg und liess sich führen. Er musste ja immer nur schauen und in die Helle staunen, die wie ein Sonntagsmorgen sich auftat. Am WeItend war kein Haus mehr, aber o-o- eine wundersame Weihnachtstanne, von Kerzen überglitzert und ob dem Wald ein Glanz und auf jedem Wipfel ein Sternchen, die alle vom Himmel gefallen waren. Wie von Silberdraht lief eine Leiter in den Himmel empor, und auf der Leiter stiegen die Engel nieder und sangen. Auf der untersten Sprosse - «Mutter, meine liebe Mutter!» jubelte der Knabe und spreizte die Flügel, er fühlte, dass ihm und dem Schwesterehen Schwungfedern gewachsen waren. Hand in Hand schwebten sie der Mutter in die ausgebreiteten Arme.
Wie ein Kinderbäumchen so winzig, sah er den Weihnachtsbaum tief im WeItend glimmen und verglühen, und das sagte ihm nichts mehr.
Wenn der Himmel sich öffnet, so ist die Erde nur noch ein Körnchen Staub. Und Rudi und Annemareili flogen mit der Mutter dem Himmel zu.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.