Vor vielen, vielen Jahren war im Fischenthal gut leben; denn die Handspinnerei verschaffte goldenen Verdienst, und es konnte der Fleissige und Sparsame etwas erübrigen; ein Tag fleissiger Arbeit reichte für den Unterhalt einer Woche aus. In diesen glücklichen Tagen verbreitete sich einst das Gerücht, in fernen Landen habe ein reicher Mann, namens Sand-Bläsi, eine von Wasser getriebene, mechanische Spinnerei erfunden, welche nur mit wenigen Arbeitern in vierzehn Tagen so viel Garn liefere, als die sämtlichen Spinner im Fischenthal in einem ganzen Jahre.
Anfänglich wollte niemand an solch ein Wunder glauben, und als die Fabrikanten wirklich kleinern Spinnerlohn zu bezahlen anfingen, vermuteten viele Spinner, es wäre nichts weiter als eine unter den Einnehmern verabredete Sache, um den Spinnerlohn herunterzudrücken. Aber bald wurde man von der wirklichen Existenz des gefürchteten Sand-Bläsi vollkommen überzeugt. Seine Spinnerei lieferte ungemein feines Garn, wie es keinem Handspinner möglich war und zu weitaus billigeren Preisen, als es bisher zu bekommen gewesen. Woche um Woche verschlimmerte sich der Verdienst der Handspinner, bis es endlich fast unmöglich war, damit das Leben zu fristen.
Die verzweifelten Spinner liessen den Sand-Bläsi bitten, Barmherzigkeit zu üben an den armen Handspinnern und sein mechanisches Geschäft nicht allzusehr zu erweitern, damit sie nicht gänzlich zu Grunde gerichtet würden. Allein der reiche Mann wusste nichts von Mitleid gegen die Armen und er errichtete bald neue, ähnliche Wasserwerke. Jammer und Not der Handspinner wurden noch grösser; während viele in ein dumpfes Träumen verfielen, erkannten andere die Grundursache ihres Unglücks in der Habgier des reichen Sand-Bläsi, der wahrscheinlich einen Bund mit dem Teufel gemacht habe. Und manche fluchten dem Sand-Bläsi in grässlichen Ausdrücken, und zwar zu mehrerer Bekräftigung um Mitternacht an den Kreuzwegen und unter Haselbüschen; in den Sternen lasen sie das schauerliche Verhängnis des Verworfenen und sahen beruhigter in die Zukunft.
An einem Abend, als die Spinnräder in den Lichtstubeten zur Ruhe gestellt waren und die Spinner zu gemeinsamem Gebet auf den Knien lagen, geschah ein seltsames Zeichen: Jede Radscheibe lief von selbst „gyrend“ um den Wendelbaum, worauf es ganz still wurde. Anfänglich hielt es jede Stube für das gewöhnliche „Geisten“, wie man es immer hörte in dem Augenblicke, da im Ort jemand starb. Aber als Tags darauf aus allen Spinnstuben des Tales dasselbe berichtet wurde, war man auf etwas Ausserordentliches gespannt; es blieb auch nicht aus.
Bald lief das Gerücht durchs Tal, der Sand-Bläsi werde nun seinen Lohn bekommen. Gott selber sei über ihn zu Gericht gesessen und habe zu Recht erkannt, der Sand-Bläsi habe alle seine Reichtümer zu veräussern und dann, so weit der Erlös ausreiche, in den Landen, der durch ihn verarmten Spinner herumzufahren, damit jedermann erkenne, der habgierige Sand-Bläsi sei ein Gräuel in den Augen des Herrn.
Der Sand-Bläsi war so reich geworden, dass 30 Pferde erforderlich waren, um die grosse Geldlast fortzubringen. Und ein Wunder war’s , dass es ebenso vieler Pferde bedurfte, um seine schmächtige Person zu führen. Auf jedem Pferde musste ein Fuhrmann sitzen, und es musste ein ehemaliger armer Spinner sein, sonst kamen die Lasten nicht von der Stelle. Das alles verursachte grosse Kosten und das Vermögen des Sand-Bläsi erlitt schon in den ersten Tagen seiner Wanderschaft eine starke Verminderung. Während die Geldlasten täglich weniger Pferdekraft erforderten, schwerte der Sand-Bläsi um so mehr. Von seiner Fahrt wurde im Tal oft und abenteuerlich erzählt, und eines Morgens hiess es, er habe ins Baumer-Tal eingelenkt und werde bis etwa am folgenden Abend in Lenzen eintreffen.
Um die Vesperzeit des folgenden Tages war dann endlich das Knallen der Peitschen im Widerhall des Schlössligubels unweit der Grenze von Fischenthal in den Spinnstuben von Lenzen leicht hörbar. Die neugierigen Spinner und Spinnerinnen eilten ihm entgegen; eben fuhr er ins Fischenthal; das war ein Schauen! An einem Wagen zogen sechzig Pferde, und die Last auf demselben war nichts anderes als der Sand-Bläsi, der zum Gerippe verdorrt in einer Ecke zusammengekauert sass. Der Wagen schien wegen der vielen nötig gewordenen Reparaturen aus lauter Eisen zu bestehen. Sand-Bläsis nur noch in wenigen Talern bestehendes Vermögen trug ein ehrlicher Spinner, neben dem Wagen einhergehend, nach. Der Zug bewegte sich sehr langsam, als wäre ein Berg fortzuschleppen; unaufhörlich musste gemännt und geknallt werden.
Helleuchtend kam der Mond hinterm Waldsberg herauf, als der Sand-Bläsi im Lenzen einfuhr. Immer langsamer ging’s; die Pferde dampften vor übermässigter Anstrengung; um die kleine Summe seines Vermögens wurde noch Futter für dieselben hergeschafft. Der Zug näherte sich jetzt dem Rabengubel (hohe, graue, dünnbebuschte Felsen oberhalb dem Lenzen, links der Töss). Gab dieser von jeher allen, die ihn laut anriefen, ein gar holdseliges Echo und blieb keine Antwort schuldig, so redete er vornehmlich an diesem Abend überaus laut und kräftig. Von Fuss bis Haupt vom Monde beleuchtet, stand er wie ein gespenstiger Riese da, und ihm drohte der Sand-Bläsi fast die Füsse abzukarren; das schien Runzeln zu erzeugen auf seiner Stirn. Jetzt, hart an seinem Fusse, stockte der Zug. Schauerlichen Tones kam eine Stimme aus dem Wagen, vor dem sich die Menge der Zuschauer zurückzog und sich am rechten Ufer der Töss, in den Stöcken postierte.
Abermals und schauerlicher kam die Stimme aus dem Wagen: Der Sand-Bläsi flehte‚ es möchte die Fuhrmannschaft doch das äusserste versuchen, um die Fahrt fortzusetzen. Mitleidig gehorchten sie; ein Männen, Klatschen und Knarren erhob sich, dass die Felsen bebten; donnernd redete der Rabengubel drein. Die Fahrt blieb im Stocken. Zum drittenmal kam ein flehendes Getöne aus dem Wagen; dann neues Rufen, Knallen und Knarren. Da schüttelte der Rabengubel zornig sein Haupt und schleuderte einen mächtigen Felsblock auf den Sand-Bläsi herunter, unter dem dieser die Augen schloss.
Noch lange nachher glaubte man nachts in den Stöcken einen schwer beladenen Wagen die Töss hinauffahren zu hören; man vernahm ein krachend Getöse wie in den Eingeweiden des Rabengubels und es schien etwas herunterzustürzen und war doch nichts, und alles war wieder mäuschenstill.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Wörtlich aus Stauber, S. 57; VB, 1. 11. 1916. Senn, Bilder, bezeichnet diese Geschichte bereits als Volkssage. Die Chronik von Fischenthal weist darauf hin, dass 1805 in der aufgehobenen Abtei St. Blasien im Schwarzwald eine grossse mechanische Spinnerei eingerichtet wurde. - Der Bergsturz bei Lipperschwändi fand tatsächlich statt, und zwar am 2. Hornung 1827. Die Motive der Sage sind also aus drei Quellen zusammengeflossen: 1. aus der Spinnernot am Ende des 18. Jahrhunderts, 2. aus der Tatsache der mechanischen Spinnerei in Sankt Blasien, die seit 1805 die Handspinner konkurrenzierte, 3. aus dem Felssturz von 1827 an der Fischenthalergrenze. Senns: „Bilder“ erschienen 1850, und wenn darnach die Geschichte vom Unglücksbringer Sand Bläsi schon eine Volkssage war, blieb für deren Bildung der knappe Zeitraum von 20 Jahren.
St. Blasius, „Sand-Bläsi“, Heiliger und Märtyrer, Bischof von Sebaste in Kappadozien, 316 eingerichtet, hat mit der Sage im Grunde nichts zu tun.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.