Der gespenstige Ritter von Drackenaug

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Vor vielen hundert Jahren sass auf Drackenaug ein Unhold von Ritter, der durch seine Missetaten sehr gefürchtet war. Gar öfters erschien er in den schönen Gefilden der Gegend und verbreitete durch seine Erscheinung immer Schrecken und Angst, und Rachelust bemächtigte sich der friedlichen Talleute. Zwar wurde er unablässig verfolgt, bis an eine dunkle Stelle im Walde, in der Nähe der Burg; an dieser Stelle, vor der Hatz angelangt, verschwanden Ritter und Ross, wie weggeblasen, und - an des Ritters Stelle wehrte ein grässlicher Drache jedes Herannahen oder weitere Verfolgung.

Dieser Bösewicht hatte mit dem Fürsten der Hölle einen Pakt geschlos­sen, laut welchem bei jeder Verfolgung, wo es dem Ritter gelang, die arglos Bedrängten in den Wald zu locken, immer Einer Derselben zum schauer­lichen Opfer fallen sollte. Jahre hindurch wurde der Pakt gehalten. Jedes Mal, wenn ein wiederholt missglückter Streifzug gegen den Ritter sein Ende genommen, und die Verfolger den Wald verliessen - fehlte Einer derselben und war, trotz allem Suchen, nicht mehr zu finden.

Das rätselhafte Verschwinden ihrer Gefährten erschreckte die Talleute in steigerndem Grade, bis endlich Zufall und Verzweiflung ein Rettungs­mittel boten. Es war nämlich noch Niemandem gelungen, auch nur in die Nähe zu seiner Behausung zu gelangen, bis ein Schäfer, ein Sonntagskind, so viel entdecken konnte, dass der Drache, sobald er das neue Opfer zerrissen und verzehrt hatte, sich verwandelte und wieder zum Ritter ward, worauf denn auch sein Rappe auf ihn zu kam, laut wiehernd durch den düstern Forst.

Auf diese Entdeckung der Wandlung vom Ritter in den Drachen und vom Drachen zurück in den Ritter, ihren Plan fassend, schritten die zum Äussersten entschlossenen Talleute zum Rettungswerke. Einstens erschien der Ritter abermals in der Ebene, die in der schönsten Blühte stehenden Kornfelder kreuz und quer durchreitend, zu verwüsten, als eine kleine Schaar mutiger Burschen auf einem Umwege nach dem Walde zogen, nach langem Suchen das Nest des Unholden ausfindig machten und Dasselbe, wenig bewacht treffend, zerstörten. Währenddess trieb der Unhold seinen gewohnten Mutwillen mit den Verfolgern und schlug, wie gewohnt, endlich den Weg zu seiner Behausung ein, - aber von Weitem gewahrte er eine Feuersäule, die in der Gegend, wo sein Schloss stand, aufstieg, und von schrecklicher Ahnung getrieben, eilte er dem Walde zu. Er fand sein Nest zerstört, der Pakt mit dem Bösen hatte ein Ende. - Er wurde zum Drachen und muss als Solcher in grässlicher Nacht umgehen und jagen, bis von seinem Schlosse kein Stein mehr auf dem andern liegt. Auch muss er jedes böse Wetter anzeigen: Steht ein Ungewitter bevor, steigt am Tage eine leichte Rauchsäule in der Schlossgegend auf; Nachts aber schimmert ein stark rotes Licht durch den gelichteten Tannenwald; das sind des Drachen Augen, von denen das Schloss den Namen hat.

Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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