Ein sehr alter König hatte einen einzigen Sohn, den er mit grösster Sorgfalt erzog. Er lehrte ihn alles, was ein Ritter seines Ranges wissen musste: reiten, jagen, und sein Schwert führen. Er lehrte ihn auch die Kunst, König zu sein, das heisst, gerecht, mutig und gut zu sein. Als der Königssohn achtzehn Jahre alt war, wurde sein Vater sehr krank. Er liess seinen Sohn rufen und erinnerte ihn an alles, was er ihn sein Leben lang gelehrt hatte und vor allem daran, seine Untertanen immer mit Güte und Gerechtigkeit zu behandeln und nie seine Herrscherpflichten zu vernachlässigen. Der Sohn versprach es. Da schloss der alte König die Augen und starb.
Alsbald bestieg der Sohn den Thron. Er regierte ohne jemals die väterlichen Lehren zu vergessen, und das Volk war sehr glücklich unter seiner Obhut.
Eines Tages liess ihn seine Mutter zu sich rufen und sagte zu ihm: „Mein Sohn, es ist an der Zeit, dich zu verheiraten, denn ich bin alt, und bald werde ich deinem Vater folgen. Eine junge Frau muss das Amt der Königin im Palast und im Königreich übernehmen.“
Der junge König war sehr traurig. Noch nie war ihm eine Prinzessin begegnet, die er gern geheiratet hätte. Aber um seine Mutter und sein Volk zufriedenzustellen, zog er aus, um eine Frau zu suchen. Nachdem er lange umhergereist war, traf er eine Prinzessin, die war so schön und so gut, dass er sie bat, ihn zu heiraten. Sie willigte ein, und bald zog der junge König mit ihr in sein Reich. Das sanfte Lächeln der Prinzessin gewann sofort alle Herzen, und die Freude des Volkes war unbeschreiblich.
Sofort rüstete die Mutter mit Hilfe aller Würdenträger des Reiches die Hochzeit, die mit allem nur möglichen Prunk gefeiert werden sollte. Die Festlichkeiten währten eine ganze Woche. Alle Häuser der Hauptstadt waren beflaggt, und alle Bewohner, ob arm, ob reich, tanzten, sangen, speisten, und tranken. Da war keiner, der nicht an der allgemeinen Freude teilgenommen hätte.
Am letzten Festabend fand ein grosses Feuerwerk statt, und die persönlichen Gäste des jungen Königs wohnten einem Bankett im königlichen Palast bei. Man wollte sich gerade zu Tisch begeben, als ein Bote vor dem jungen Herrscher erschien. Dieser erhob sich ohne ein Wort zu sagen, jedoch nicht ohne Sorge, denn die Stunde und die Umstände dieses Besuches zeigten deutlich, dass es sich um eine wichtige Angelegenheit handeln müsse. Aber im Bewusstsein seiner Herrscherpflicht folgte der König dem Boten.
Dieser führte ihn an das Tor des Palastes, wo ein schönes weisses Pferd mit goldenem und silbernem Sattelzeug wartete. Der König wurde gebeten aufzusteigen, und der Bote schwang sich hinter ihn in den Sattel.
Das weisse Ross galoppierte davon: es lief und lief, bis es schliesslich vor einem prachtvollen silbernen Tor hielt, das sich von selbst öffnete, sobald die Reiter abgestiegen waren. Der König, immer von dem Boten geführt, trat über die Schwelle und befand sich in einem Garten, so schön, wie er noch keinen gesehen hatte.
Vor ihm lagen weite Blumenfelder in vielen Farben, die einen bezaubernden Duft ausströmten. Bäume mit vielfarbigen Blättern bildeten schattige Alleen, in denen Männer und Frauen in prachtvollen Gewändern auf und ab spazierten.
Zuerst glaubte der König, die Bewohner einer anderen Stadt seines Königreiches, deren Dasein ihm bisher unbekannt geblieben war, wären zusammengekommen, um seine Hochzeit zu feiern. Bald aber wurde ihm klar, dass niemand sich um ihn kümmerte.
Sie kamen an ein zweites Tor, dessen Pracht und Schönheit das erste noch bei weitem übertraf. Es war aus purem Gold und so kunstvoll gearbeitet, dass der König ganz geblendet war. Langsam öffnete sich das Tor, und der König trat über die Schwelle. Er befand sich in einem zweiten Garten, noch schöner als der erste. Die Blumen waren noch farbenprächtiger, die Bäume, deren Namen der König nicht einmal kannte, waren mit Früchten bedeckt, die blitzten wie Diamanten. Bunte Vögel wiegten sich auf den Zweigen der Bäume und sangen bezaubernde Lieder. Die Sonne spiegelte sich im Wasser und Springbrunnen vollführten die schönsten Wasserspiele inmitten der Blumenbeete. Die Luft war von Duft und zarter Musik erfüllt. Beim Anblick von so viel Schönheit wurde der König von unbeschreiblicher Freude durchdrungen, und er wäre gern länger in diesem Garten geblieben, jedoch in diesem Augenblick bemerkte er eine dritte Pforte, mit Diamanten, Saphiren, Rubinen, Smaragden, Türkisen, Topasen und Amethysten geschmückt, die sich langsam öffnete, als der König näher trat.
Was er hier, in diesem dritten Garten sah, übertraf alles, was man sich vorstellen kann. Der Garten war so gross, dass es schien, als hätte er kein Ende. Durch die weiten Gefilde von Blumen und Bäumen, deren Farben und Formen auf Erden unbekannt sind, führten Alleen, durch die der König wandelte, ohne die geringste Müdigkeit zu spüren. Man brauchte nur die Hand auszustrecken, um die köstlichsten Früchte zu pflücken. Kinder spielten am Ufer von Seen, von kleinen, anmutig springenden Tieren begleitet, und das Wasser der Seen war klar wie Kristall. Andere Kinder glitten in kleinen Barken schweigend auf den Wassern dahin. Die Luft war mild und voller Licht, voller Duft und Musik. Der König dachte nicht daran, diese Zaubergefilde zu verlassen, als der Bote ihn plötzlich daran erinnerte, dass es Zeit sei, in sein Schloss zurückzukehren. Er willigte ein, sofort befanden sie sich vor der Pforte des ersten Gartens, wo das weisse Pferd auf sie wartete. Der König schwang sich in den Sattel, und das Pferd galoppierte davon, bis es vor dem Portal des königlichen Palastes hielt.
Der König sprang ab und rief die Torwächter, damit sie ihn einliessen. Aber zu seiner grossen Verwunderung sah er einen Wächter kommen, den er nie zuvor gesehen hatte und der ihn nach seinen Wünschen fragte. Der König gab sich zu erkennen und wünschte, schnell zu seiner Gemahlin und zu seinen Gästen geführt zu werden. Aber der Wächter schien ihn nicht zu verstehen. Er führte ihn zu seinem Herrn, einem Greis, dessen Aussehen von grosser Weisheit zeugte.
Dieser bat den König, ihm alles zu erzählen, was geschehen war. Er hörte ihm aufmerksam zu. Dann schlug der greise Gelehrte ein grosses Buch auf und forschte lange in den alten Chroniken, bis er den Bericht von dem geheimnisvollen Verschwinden eines jungen Königs fand, der am Abend seines Hochzeitstages entführt worden war. Dies war, so behauptete der Greis, vor genau dreihundert Jahren geschehen.
Die Nachricht von der Rückkehr des verschwundenen Königs verbreitete sich schnell, und alle Welt versammelte sich im Palast, um das Ereignis zu feiern. Die schönsten Gerichte wurden aufgetragen, aber der junge König weigerte sich, davon zu essen. Da aber alle darauf bestanden, dass er etwas zu sich nehme, gab er nach. Kaum aber hatte seine Zunge ein Stück Brot berührt, da wurde er zusehends alt. In wenigen Augenblicken war er ein uralter Mann, und schliesslich zerfiel er zu Staub. Man begrub ihn an der Seite seiner Gemahlin.
Märchen aus der Schweiz
Aus: Märchen aus fünf Kontinenten, Mondo Verlag, geht wahrscheinlich zurück auf „Der junge Herzog“, Otto Sutermeister, Kinder- und Hausmärchen der Schweiz
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.