Einst herrschte eine böse Hungersnot. Reich und Arm litt gleichen Mangel. Um diese Zeit lebte in Hägendorf oder in Rickenbach eine arme Witwe mit fünf Kindern. In der ganzen Gemeinde hatten sie keinen barmherzigen Menschen gefunden, als den Pfarrer. Der half ihnen, solange er auch noch etwas zu beissen hatte. Aber danach fing das Hungerleiden an. Bis zum Frühjahr konnte sich die Frau mit ihren fünf Kindern gerade noch über Wasser halten, aber an der jungen Fasnacht gab es nichts mehr in Haus und Garten, das man hätte essen können. Einzig ein mageres Huhn war noch übriggeblieben. Da sagte die Witwe zu ihren Kindern: «Weil's heute Fasnacht ist, wo andere Leute mehr als genug Fleisch essen, will ich das Hühnchen schlachten.» Sie kochte das Hühnchen in einer Suppe, und die Kinder weinten. Da sassen dann alle um den Tisch und wollten zugreifen.
Aber von diesem Tag an sah man weder die Witwe noch eines ihrer Kinder mehr im Dorf. Man forderte den Pfarrer auf nachzuschauen; vielleicht sei die ganze Familie längst gestorben. Am Karfreitag ging der Pfarrer zum Haus der Witwe. Da sah er sie mit ihren fünf Kindern um den Tisch sitzen und schlafen. In der Schüssel dampfte ein Hühnchen in der Suppe. Der Pfarrer weckte die Frau und sagte: «Schämt Ihr euch nicht, am heutigen Tag Fleisch zu kochen!»
Da sagte die Frau: «Wir sind arme Leute und wir haben nichts zu essen als das Hühnchen. Und weil es heute junge Fasnacht ist, wo andere Leute mehr als genug Fleisch auf dem Teller haben, dachte ich, wir essen das Hühnchen und sterben dann Hungers, wenn es der liebe Gott so will.»
Da schüttelte der Pfarrer den Kopf und sagte: «Junge Fasnacht, gute Frau! Heute ist Karfreitag!»
Da merkte die Frau erst, dass sie mit ihren Kindern die vierzigtägige Fastenzeit verschlafen und so aus besonderer Gnade die Zeit der bittersten Not überstanden hatte.
Quelle: P. Keckeis, M. Kully, Sagen der Schweiz. Solothurn, Zürich 1987. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch