Der rüstige Wanderer, welcher vom «Bürglenstutz» an die alte Kantonalstrasse nach Tentlingen einschlägt, erblickt kurz vor dieser Ortschaft zur linken Hand den einsamen Bauernhof Helmetingen. Einst soll er Eigentum einer freiburgischen Patrizierfamilie gewesen sein. Bevor man zum Hof gelangt, passiert man hinter Rothaus einen Hohlweg, auf dessen Höhe ein zum Landgut gehöriges Kapellchen steht. Es ist der heiligen Anna geweiht. Um diese Kapelle hat der Volksglaube mehrere sinnreiche Sagen gesponnen. Eine nur wenigen Anwohnern bekannte Legende mag hier zur Unterhaltung des Lesers folgen:
Vor einigen Jahrzehnten diente beim «Helmetinger», wie der Besitzer des Anwesens im Volksmund hiess, ein alter, erprobter Dienstknecht namens Wulli (Ulrich). Man konnte ihn zwar nicht beschuldigen, das Schiesspulver erfunden zu haben; es war eine schlichte, einfache Seele, ohne Falsch und Arglist, aber seiner Herrschaft treu und ergeben, wie selten einer zu finden war. Seine Pflichten erfüllte er stets mit gleicher Gewissenhaftigkeit wie vom ersten Tage an, wo er nach Schulentlassung auf den Hof gekommen war. Wullis Arbeitsfeld war der Rossstall, die Pferde füttern und reinlich halten war seine Aufgabe. Ausserdem musste er mit dem Milchwagen täglich in die Stadt fahren und den verschiedenen Stadtfrauen MiIch liefern. Ein braves Eselchen zog das leichte Fuhrwerk. Hatte Wulli seine Milchbrenten und «Tutteln» (Milchkannen) geleert, musste er dem Bauer etwa ein «Päckli Tubak», einige Nägel oder sonstige Kleinigkeiten einkaufen, der Bäuerin Bierhefe zum Brotbacken, oder einem kranken Nachbarn ein Gütterli vom Doktor oder Apotheker mitbringen. Aller dieser Aufträge entledigte sich der Knecht genau, ohne etwas zu vergessen.
Als Wulli an einem frühen Sommermorgen mit seinem Freund Langohr wohlgemut durch den Hohlweg trabte, begegnete ihm etwas Merkwürdiges. Beim Kapellchen hielt das Tier plötzlich still und bockte. Der Fuhrmann versuchte es zuerst mit gütlichem Zureden, dann mit Drohungen; ja, als diese Mittel nichts halfen, tat er, was sonst nie notwendig war bei seinem Grautierchen. Er hieb dem Widerspenstigen einige kräftige Peitschenhiebe über Rücken und Ohren. Allein das Eselchen tat wie sein alttestamentlicher Bruder weiland beim Propheten Bileam. Es war durch keine Gewalt vorwärts zu bringen. Es blickte seinen Gebieter traurig an, als wollte es sagen: «Warum schlägst du mich so grausam? Ich kann ja nicht weiterziehen.» Da blieb dem Milchmann nichts anderes übrig als einen Umweg zu machen. Kaum hatte er sein Gefährt umgekehrt, folgte der Esel wieder. Über Wiler und Grenchen zog Wulli mit dem Milchwagen nach Freiburg und traf mit grosser Verspätung in der Stadt ein, wo ihn Hausfrauen und rotbackige Dienstmägde ungeduldig erwarteten. Der Knecht sprach kein Wort über den Grund seiner Verspätung. Aber die Sache beim Gebetshäuschen ging ihm nicht aus dem Sinn. «Hier ist etwas nicht in Ordnung gewesen», urteilte er. «Mein braves Grautierchen ist verhext. Sonst wäre es nicht so bockbeinig gewesen.» Am Liebfrauenplatz hatte Wulli einen alten Jugendfreund, den schlauen Hufschmied Heino. Beide stammten aus dem gleichen Dorfe - beide hatten auf derselben Schulbank ihre Zwilchhosen durchgerieben. Der Schmied stand zudem im Rufe «mehr zu können als Schwarzbrot essen»; er galt als ein Zauberer.
Also ging Wulli in seiner Not zum Freund und erzählte, was ihm heute Kurioses passiert sei. Aufmerksam hörte der Schmied zu, während er sich seine kohlschwarzen Locken kraute. Nach einiger Überlegung gab er ihm folgenden Rat: «Hier gebe ich dir einen kleineren Hammer. Nimm denseIben das nächste Mal mit auf den Weg. Wenn dir bei der Kapelle das gleiche Hindernis sich entgegenstellt, dann greif schnell zum Hammer und schlage am rechten Vorderrad deines Milchwägelchens eine Speiche heraus. Damit wird dir geholfen werden. Aber teile vom Vorgefallenen niemand etwas mit.»
Der gute Wulli dankte seinem Freund recht herzlich und versprach, alles so auszuführen, wie ihm aufgetragen sei. Wohlgetröstet kehrte er heim und teilte seinem Herrn kein Wort mit von seinem Erlebnis.
Am nächsten Morgen trat er wieder den gewohnten Weg an. Und richtig! Bei der Kapelle blieb der Esel stehen wie am vorigen Tag. Hurtig griff Wulli nach des Schmieds Weisung zum Hammer und schlug vom rechten Vorderrad eine Speiche weg. Aber was war denn das? Kaum hatte der Knecht den Hieb getan, stand ein hübsches, zierliches Edelfräulein in alter Tracht vor ihm. Auf dem Haupte trug es ein güldenes Krönlein. Ein gelbes Gewand kleidete die Gestalt. Als das Fräulein den Alten mit dem Hammer erblickte, fing es an, laut zu weinen. Der Knecht getraute sich kein Wort zu sprechen, sondern bekreuzigte sich ein ums andere Mal; so schnell es gekommen, ebenso schnell verschwand das Fräulein, ohne etwas zu sagen. Der erstarrte Wulli dachte, es sei eine unerlöste arme Seele gewesen, vielleicht eine frühere Bewohnerin des Landgutes. Aber merkwürdig! Jetzt trabte der Esel ungescheut voran, wie früher. Als Wulli die Milch verteilt hatte, ging er zu den «Barfüssern» (Franziskanern) und bestellte dort aus seinen Ersparnissen einige heilige Messen für die armen Seelen. Dann gab er dem Schmied Heino den Zauberhammer zurück; er mochte ihn nicht länger bei sich behalten. Erleichtert fuhr er mit seinem Gespann nach Helmetingen zurück. Fortan konnte er ungeschoren mit seinem Freund Langohr an der gefährlichen Stelle vorbeiziehen. Das Fräulein kam nicht wieder.
Seiner Lebtag verschloss der Alte sein wunderliches Erlebnis in seinem Innern. Erst auf dem Todbette erzählte er seinen nächsten Anverwandten davon. Er beteuerte bei seiner ewigen Seligkeit, die er zu erlangen hoffte, dass dieser Vorfall wahr sei. Ein Nachkomme von Wullis Familie hat nun diese eigentümliche Geschichte wiedererzählt.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.