Zwischen den Kantonen Zürich, Schwyz und Zug steht, als erhabener Grenzstock, die Hohe Rohne (der Höhronen), ein Berg, der, um seiner ausgedehnten Fernsicht willen, zur Frühling-, Sommer- und Herbstzeit von zahlreichen Wallern besucht wird. Ein kühler Föhrenwald umzieht des Berges Mitte und läuft gegen den sogenannten Rossberg hinunter in spärlichem Wuchse aus. Dieser Rossberg ist eine fruchtbare Alp, auf welcher mehrere Sennenwohnungen zerstreut herumliegen. Steigt man von diesen Hütten den steilen Bergpfad hinan, so muss man bei einem gewaltigen Granitblocke vorbei. Dieser Block ist in der umliegenden Gegend unter dem Namen Dreifingerstein bekannt. Bei näherer Betrachtung rechtfertigt sich diese sonderbare Benennung dadurch, dass man oben auf der platten Höhe drei Vertiefungen wahrnimmt, die gerade der Art sind, als ob sie durch das Hineinstecken des Daumen-, Zeig- und Mittelfingers entstanden wären. Von dem Ursprung dieser Löcher erzählt die Volkssage Folgendes.
Ein reicher und habsüchtiger Senn machte nach dem Absterben des Besitzers auf Alp und Wald ungerechten Anspruch. Seine Forderung geschah auf Unkosten der Kinder des Verstorbenen, die durch den Verlust dieser Grundstücke arme Waisen geworden wären. Falsche Dokumente und Verschreibungen unterstützten die Ansprüche des Betrügers; die armen Kinder hatten nichts als ihr inneres, gutes Recht. Es kam zum richterlichen Augenschein und zum Eidschwur. Der Bösewicht leistete ihn mit aufgehobenen Schwörfingern auf der Höhe des Felsens laut und frech.
„Weh dir“, rief ihm der Richter zu, „so du einen falschen Eid getan!“
Da tat der Mann auf dem Felsen die grässlichsten Beteuerungen, wie ihn der Teufel holen solle, wenn er Unwahrheit geschworen: „So wenig“, rief er, „als ich meine Schwörfinger in diesen harten Stein tauchen mag, als in Wasser - so wenig hab' ich einen falschen Eid getan!“
Und damit setzte er in grauser Vermessenheit die Finger auf den Stein, als ob er dieselben hineindrücken wollte. Und siehe, der Felsen gab nach wie weicher Schnee und die drei Schwörfinger begruben sich drin bis ans hinterste Gelenke.
Entsetzt wollt' er sie alsbald zurückziehen; sie waren aber festgewachsen, also, dass all sein Mühen und die Arbeit Anderer nichts fruchtete. Gott hatte gerichtet; der Fälscher bekannte sein Verbrechen vor allem versammelten Volke.
Und nach dem er gebeichtet, erbebte die Erde; die Föhrenzweige rauschten schauerlich, und aus dem Walde fuhr unter Blitz und Donner eine kohlschwarze Wolke. Und die Wolke umhüllte ihn und ein lautes Geheul erhob sich in derselben; dann zerteilte sie sich und zerfloss in der Luft.
Der Verbrecher aber lag entseelt und das Antlitz im Nacken.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.