Auf der Stelle, wo jetzt der Turtmanngletscher seine blauen Eislasten ausbreitet, befand sich einst die schönste Alp des Tales, Blüemlisalp geheissen. Der Senn hatte ein schwarzes Hündlein und eine Jungfrau, Namens Kathrin, mit welcher er ein unzüchtiges Leben führte, während er seinen alten, blinden Vater auf unmenschliche Weise behandelte. In einer Nacht brach ein furchtbares Hochgewitter los. Der harte Sohn befahl seinem Vater das entlegene Vieh einzutreiben. Dieser gehorchte mit bitterem Schmerze, von dem Sohne Übles befürchtend, wenn er seinem Gebote sich nicht fügen würde. Da geschah es aber, dass der blinde Vater, als er in den wilden Sturm hinausgetreten war, ohne sein Wissen in seltsamem Drange sich immer weiter von der Alp entfernte, und dass alle Kühe ihm nachzogen. In derselbigen Stunde brach der Gletscher donnernd los von den festen Höhen und bedeckte plötzlich die schöne Alp für immer mit seinen turmhohen Massen. Der strafwürdige Senn, das arge Weib und das Hündlein fanden ihr Grab unter den Trümmern der eingestürzten Wohnung und kein menschliches Auge kann den Ort so vieler Freveltaten mehr erblicken. Noch jetzt wollen die Tal-Leute, kurz vor eintretenden Wasserverheerungen, zuweilen das schwarze Hündlein sehen und eine menschliche Stimme hören welche die Worte ruft: "Ich und min Kathrin mühen immer und ewig auf Blümlisalp sin."
Theodor Vernaleken: Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.