Mutter kann nicht schlafen,
Denn die liebe Tochter
Ist ihr ja gestorben –
Schönes, liebes Kind!
»Achtzehn Jahre eben,
Warst Du meine Wonne,
Warst des Dorfes Freude,
Schönes, liebes Kind!«
Und die arme Mutter
Kann nicht in der Kammer,
Nicht im Hause weilen,
Muss zu ihrem Kind.
Stille, milde Mondnacht
Ob des Dorfes Friedhof,
Wo die Linden rauschen
Nah' am alten Turm.
Und auf diesem Turme
Schlägt es eben Zwölfe;
Mutter sinkt erschüttert
Auf des Kindes Grab.
Plötzlich steigen Schatten
Leise - leise - leise
Aus der Gräber jedem,
Schweben still durch's Tor.
Leise - leise - leise
Schweben sie, geordnet
In dem dunkeln Zuge,
Dreimal durch das Dorf.
Und der Meisten Mienen
Sprechen stille Ruhe,
Grüssen voller Freuden
Alter Heimat Haus.
Wessen Antlitz dunkel,
Dass man's nicht kann seh'n,
Dem ist's nicht geheuer –
War ein Bösewicht. –
Niemand kann dich hören,
Stillster aller Züge,
Und nur wenig Augen
Dürfen dich erschau'n.
Gute Mutter durft' es,
Sah auch ihre Tochter,
Sah die liebe Tochter,
Wie im Leben schön.
Lieblich wie die Lilie
Schwebt sie nach den Andern,
Und ihr Engelantlitz,
Offen ist\'s zu schau\'n;
Aber nicht voll Ruhe,
Wie die stillen Waller,
Ängstlich trägt ein silbern
Becken ihre Hand;
Bückt sich oft zur Erde,
Wie, um Was zu suchen, -
Kleine Perlen wirft sie
In das Beckelein.
Mutter kann nicht schweigen –
»Tochter, liebe Tochter!
Warum bist nicht ruhig,
Wie die Andern sind?« -
»Liebe, liebe Mutter« -
Seufzt sie voller Wehmut,
»Kann nicht ruhig werden,
Denn du weinst so viel!
Deine Tränen muss ich
Sammeln von der Erde,
Und so lang' sie fliessen,
Find' ich Ruhe nicht!
Liebe, liebe Mutter,
Schaue an der Toten
Friedevolle Ruhe,
Wein' um Tote nicht!
Unsern sanften Schlummer,
Stör' ihn nicht durch Tränen! –
Dir und mir, und Allen
Strahlt ein Morgen einst!« -
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.