Ein Rechenmacher kam vom Berner Markt, auf dem er all seine Waren verkauft hatte, zurück. Er verspürte eine solche Müdigkeit in den Gliedern, dass er sich gezwungen sah, in ein am Wege liegendes Wirtshaus einzukehren und hinter einem Gläschen Rast zu halten. Die Wirtsstube war voll Leute, denn es wurde eine Versammlung abgehalten. Aber es fiel ihm auf, dass die Wirtin sich nicht zeigte, sondern die Bedienung der vielen Gäste ihren beiden Töchtern allein überliess. Als er sein Gläschen getrunken hatte, nahm er seinen Karren und trat seinen Heimweg wieder an. Einige hundert Schritte vom Wirtshaus entfernt übermannte ihn die Müdigkeit derart, dass er sich auf das Strassenbord hinlegte und in kurzem fest einschlief. Plötzlich wachte er auf; er hatte Schritte gehört. Nicht weit von sich sah er zwei Herren auf ihn zukommen, die eine mit einer Tracht bekleidete Frau in ihrer Mitte führten.
Als die drei bei ihm angekommen waren, herrschte der eine der Herren ihn an: «Was tust du hier?» Und noch bevor er sich verteidigen konnte, er hätte doch wohl das Recht, auf diesem Flecken Erde zu liegen, fuhr ihn der zweite an: «Mach, dass du fortkommst!» So bedrohlich klang die Stimme, dass der Rechenmacher sich dies nicht zweimal sagen liess, sondern sich schnell erhob, seinen Karren ergriff und sich davonmachen wollte.
Aber etwas zwang ihn, den Kopf nach der Stelle zu drehen, auf der er sich ausgeruht hatte. Er sah, wie die Herren die Frau auf den Platz führten. Da, ein leises Sausen. Die drei hoben sich in die Luft, immer höher und höher. In einer Spirale drehten sie sich hinauf, einander an der Hand haltend. Dann verschwanden sie in einem zarten Wölkchen, in einem feinen Hauch.
Überwältigt von dem, was er gesehen, eilte der Rechenmacher ins Wirtshaus zurück. Seine Müdigkeit war ihm aus den Gliedern gefahren. Kaum hatte er sich gesetzt, da kam die ältere Tochter der Wirtin vom oberen Stockwerk herunter und bat die Gäste, etwas ruhiger zu sein, da ihre Mutter im Sterben liege.
Dem Rechenmacher fiel ein, was seine Mutter zu erzählen pflegte: «Einige Zeit, bevor der Mensch stirbt, verlässt die Seele den Leib.»
Wer aber waren die beiden Herren, die die Wirtin geholt hatten?
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch