Im Kanton Unterwalden steht am Rande eines Bergsteigs, der schlangengleich sich durch die herabgestürzten Bergstücke windet, womit das aufsteigende Gelände bedeckt ist, an der schmälsten Stelle, wo der Wanderer, von den unergründlichen Schluchten unter seinen Füssen, sowie von den noch bedrohlicheren, überhängenden Felsmassen über seinem Haupte geängstigt, zwischen einem zweifachen Tode fortschreiten muss, eine kleine Wallfahrt-Kapelle, der hl. Jungfrau geiweiht und ladet zur stillen Andacht ein. Dies Gnadenbild der Gottesmutter, mitten in einer Gegend voll Schrecken und Gefahren, wo weit umher keine Wohnung und Hilfe zu finden ist, heisst: Unsere liebe Frau des Wanderers.
Die Überlieferung erzählt, vor sehr langer Zeit sei dieser unheimliche Ort der Teufelsgang genannt worden. Die bösen Geister hielten hier Wache und was vorüber kam, Reisende, Jäger, Hirten wurden ihre Beute. Bald wurden die Unglücklichen durch einen furchtbaren Schwindel in Abgründe geschleudert, auf deren Boden hundert Fuss hohe Tannen wie niedrige Grashalme erschienen, und in deren dunkle Tiefen selbst die Geier des Gebirges sich nicht niederlassen mochten; bald wurden sie von Blitzstrahlen wie von feurigen Schwertern durchbohrt; bald verursachte das Zirpen einer Grille, der Flügelschlag eines Vogels oder das Graben einer Ameise einen entsetzlichen Lawinensturz und die Wanderer lagen unser ungeheuren Felsblöcken begraben wie unter einem Leichensteine.
Kurz der Weg war verflucht. Nachdem man vergeblich alle Mittel ergriffen hatte, um ihn sicher zu machen, kam man endlich auf den Gedanken, eine Kapelle dort zu erbauen und ein Marienbild hinein zu versetzen, damit niemand unter allen Schrecken und Gefahren vergesse, den Namen der Barmherzigkeit Gottes anzurufen und sich mit dem Zeichen des Kreuzes zu schützen. Wo sollte man aber Arbeitsleute finden, die kühn genug wären das Werk zu unternehmen? — Inzwischen erboten sich dennoch einige, die dahin gingen, nachdem sie die hl. Messe gehört hatten. Und die Muttergottes, um diesen frommgläubigen Männern ihre Macht und Huld kund zu tun, hielt, so lange die Arbeit währte, die schwankenden Felsen mit den Spinngeweben fest, die über den Grashalmen und Zweigen der Gebüsche ausgespannt waren. Seit jener Zeit ist der Weg ohne Gefahr und es ist weder bei Tag noch bei Nacht etwas Unheimliches vorgefallen; denn Unsere liebe Frau des Wanderers ist so barmherzig, dass sie alle Wanderer schützt und bewahrt, sogar Jene, die sie nicht bemerken und verehren wollen, um wie viel mehr jene, welche sie aufsuchen an ihren Gnadenorten und zu ihr wallfahrten.
Aus: Franz Niederberger Sagen und Gebräuche aus Unterwalden, Sarnen 1924. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch