Der große Stern verneigt sich vor dem kleinen Stern

Land: Türkei
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal ein reicher und mächtiger Padischah, der hatte keine Söhne, aber drei schöne Töchter. Eines Nachts nun hatte der Padischah einen Traum. Er sah, wie ein grosser Stern sich vor einem kleinen Stern verneigte, und diesen Traum hatte der Padischah dreimal. Da liess er am nächsten Morgen alle Traumdeuter und Sternkundigen seines weiten Reiches kommen. Er erzählte ihnen den Traum und fragte: »Nun saget mir doch, was dieser selt­same Traum bedeutet!«

Da trat der älteste der weisen Männer vor den Thron des Padischah und sprach: »O Herr, du Löwe auf dem Thron, Euer Traum hat sich auch am nächtlichen Firmament wie­derholt. Dreimal verneigte sich die Sonne vor einem klei­nen Stern, und dies bedeutet, dass Ihr Euch eines Tages vor Eurer jüngsten Tochter verneigen werdet.«

Als der Padischah diese Worte hörte, erschrak er sehr, dann aber geriet er in grossen Zorn, und er befahl einem Diener, die jüngste Prinzessin in die Wildnis zu führen und sie dort zu töten, damit dies nie geschehen werde.

Der Diener fasste die Prinzessin bei der Hand, um den Be­fehl seines Herrn auszuführen. Als aber die Prinzessin merkte, was dieser vorhatte, da bat sie so sehr um ihr Le­ben, dass der Diener mit ihr Mitleid bekam und ihr das Leben schenkte. Sie musste ihm nur versprechen, nie mehr an den Hof des Padischah zurückzukehren. Darauf tötete er einen Hirsch, tauchte das Obergewand der Prinzessin in das Hirschblut und brachte dies dem Padischah zum Zei­chen, dass er dessen Befehl ausgeführt.

Die Prinzessin lebte nun in der Wildnis von Wurzeln und wilden Beeren. Eines Tages aber, als sie im Boden wie­der nach Wurzeln grub, sah sie eine Marmorfalltür mit einem goldenen Ring in der Mitte. Sie zog die Tür an dem Ring hoch, da sah sie vierzig Marmorstufen, die in das In­nere der Erde führten. Die Prinzessin stieg die Stufen hinab und kam in die untere Welt. Lange wanderte sie dort, bis sie zu einem prächtigen Palast kam, der inmitten eines grossen Gartens stand. Dieser Palast aber gehörte einem menschenverschlingenden Drachen. »Sei gegrüsst, Väterchen«, rief die Prinzessin dem Drachen zu, als sie den Palast betrat.

Da sprach dieser: »Weil du mich Väterchen genannt hast, will ich dich als Tochter annehmen. Sonst aber hätte ich dich verschlungen.« Und nun musste die Prinzessin bei dem Drachen im Palast bleiben, denn er hatte ihr verboten, wieder in die obere Welt zurückzukehren. Sie hatte es auch gut bei ihm. In alle Säle des Palastes durfte sie gehen, und jeder war angefüllt mit Gold und Edelsteinen, bis auf den letzten Saal, der war ihr verboten.

Eines Tages, als der Drache tief schlief, konnte die Prinzes­sin ihre Neugierde jedoch nicht mehr bezwingen. Sie eilte davon und öffnete die verbotene Tür. Da sah sie inmitten eines prächtigen Saales ein grosses, silbernes Becken, in dem schwammen zwölf Enten, die hatten Federn weiss wie der Tag und schwarz wie die Nacht. Kaum bemerkten die Enten die Prinzessin, da riefen sie: »Herbei, herbei, o Ge­bieter, die Prinzessin erblickt uns!«

Da murmelte die Prinzessin einen Zauberspruch, den sie einmal von ihrer alten Amme gelernt hatte, und da starben die zwölf Enten.

Entsetzt eilte sie nun in den Saal des Drachen, und da war auch dieser am Sterben. Er sprach zu ihr: »Meine Tochter, nun erfüllt sich mein Schicksal. Wenn ich tot bin, dann begrabe mich inmitten des Gartens, und von dem Augen­blick an werden darin Getreide aller Arten wachsen.« Als der Drache tot war, da tat die Prinzessin, was er ihr geraten hatte. Und siehe - von diesem Augenblick an wuchsen in dem Garten Getreide aller Arten in verschwenderischer Fülle.

Während dieser Zeit brach in der oberen Welt eine Hun­gersnot aus. Da ging die Kunde von der Herrin in der un­teren Welt und ihrem Getreidegarten durch alle Lande. Und die Menschen zogen hinab in die untere Welt, baten die Herrin um Getreide, und jedem gab sie reichlich mit. Da sandte auch der Padischah seine beiden älteren Töch­ter hinab in die untere Welt. Sie erkannten ihre jüngste Schwester nicht wieder, die reich mit Gold und Edel­steinen geschmückt war. Diese aber erkannte sie wohl. Sie gab auch ihnen reichlich Getreide mit, aber dann sprach sie: »Wenn ihr wiederkehrt, müsst ihr euren Vater mitbringen, sonst werde ich euch kein Getreide mehr mit­geben.«

Bald war im Lande des Padischah das Getreide aufgezehrt, und wieder wollte er seine beiden älteren Töchter hinab­senden in die untere Welt. Doch diese sprachen: »Vater, die Herrin der unteren Welt im Getreidegarten hat ge­sagt, wir müssten Euch mitbringen, sonst würde sie uns kein Getreide mehr mitgeben.« Und so zog der Padischah mit seinen beiden älteren Töchtern hinab in die untere Welt, und auch er erkannte seine jüngste Tochter nicht wieder.

Diese aber sprach: »Dieses Mal werde ich Euch kein Ge­treide mehr mitgeben.«

Da dachte der Padischah an sein Volk, das nun Hungers sterben müsse, wenn er kein Getreide mit hinaufbrächte. Er warf sich vor der Herrin der unteren Welt zu Boden und rief: »Habe Gnade und übe Mitleid! Wenn nicht mit mir, so doch mit meinem Volke, das Hungers sterben muss, wenn ich kein Getreide mit hinaufbringe.«

Da hob ihn die Prinzessin zu sich empor und sprach: »Va­ter, ich bin doch Eure jüngste Tochter, die Ihr töten lassen wolltet. Aber ich verzeihe Euch.«

Da umarmte sie der Padischah, und er war froh, dass sie noch lebte. Sie feierten alle zusammen ein grosses Fest. Da­nach aber zog die Herrin der unteren Welt mit ihrem Vater und ihren Schwestern hinauf in die obere Welt, und alle Getreide haben sie mitgebracht.

Aus: U.Blaschek-Krawczyk, Märchen von Sonne, Mond und Sternen, Frankfurt a.M., 1994, Im Quellenhinweis: Dieses Märchen wurde Sigrid Früh von einem türkischen Schüler erzählt

Betrachtung in Märchenforum Nr. 103

 

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