Der Magdalenen-Einsiedler

Land: Schweiz
Region: Greyerz
Kategorie: Legende

In Onnes lebte einst ein Mann namens Jacques Godel, dessen Frau starb kurz nach der Geburt ihres Kindes. Der verzweifelte Vater wollte das Kind seiner Schwester anvertrauen, und so legte er den Sohn in eine kleine Reisewiege und schickte die Magd mit dem Bündel zu seiner Schwester nach Treyvaux. Die junge Magd machte sich auf den Weg, vorbei an Corpataux und über die alte Hängebrücke. An diesem Tag wehte ein starker Wind, die Brücke schwankte und das Wasser stand hoch. Gerade als die junge Frau auf der Brücke war, kam ein starker Windstoss. Die Magd wurde umgeworfen, die kostbare Last fiel ihr aus den Armen, direkt ins Wasser. Vergeblich richtete sich die junge Frau im Sturm auf und rief nach Hilfe, die Wiege war fort.
Am nächsten Morgen spazierte Pater Romuald vom Kloster Hauterive nach der Matutin am Ufer der Saane. Die Sonne schien, die Vögel sangen, und ein Vers aus der Morgenmesse bewegte sein Herz: „Mein Vater und meine Mutter haben mich verlassen, aber der Herr hat mich aufgenommen.“ Wie er so auf das Wasser schaute, sah er plötzlich einen Gegenstand, den der Fluss mit sich trug. Er ging näher, und erkannte mit Schrecken, dass es eine Wiege war. Beherzt trat ans Wasser, brach einen langen Ast ab und zog die Wiege ans Ufer.
In der Wiege lag ein kleines Kind, das so selig schlief, dass Pater Romuald das Herz aufging und er dachte: „Dein Vater und deine Mutter haben dich verlassen, aber ich selbst werde dein Vater sein und eine Mutter für dich finden.“
Wie staunte die ganze Klostergemeinschaft, als Pater Romuald das Findelkind mitbrachte! Man vertraute den kleinen Jungen der Bäuerin auf dem nahen Bauernhof an, deren Mann versprach, ihn anzunehmen wie einen eigenen Sohn Jean. Am nächsten Tag wurde das Kind in der Kirche von Ecuvillens getauft und erhielt den Namen Joseph.
So wuchs der kleine Junge heran. Er war ein aufgeweckter Bursche und wurde schon bald von Pater Romuald unterrichtet. Alle bemerkten, was für ein wacher Geist in Joseph steckte, und doch schien er die Einsamkeit der Gesellschaft vorzuziehen und verbrachte viel Zeit in den Wäldern rund um Hauterive und in den Burgruinen von Illens und Arconciel. Zu seiner liebsten Lektüre gehörten die Legenden der heiligen Eremiten Paulus, Antonius und Pacomus.
Als Joseph fünfzehn Jahre alt wurde, nahm man ihn im Kloster als Küchenhilfe auf, und drei Jahre später trat er in die Gemeinschaft der Zisterzienser ein.
So vergingen einige Jahre.
Doch eines Morgens war Bruder Joseph verschwunden. Niemand fand ihn, so sehr man auch nach ihm suchte.
Pater Romuald litt sehr unter diesem Verlust. Mit jedem Tag, jeder Woche, jedem Jahr, das ohne eine Spur von Joseph verging, verlor der Pater mehr und mehr die Hoffnung, seinen Zögling in diesem Leben noch einmal wiederzusehen.
Weiter unten am Lauf der Saane lag die Magdalenen-Einsiedelei, deren Einsiedler vor kurzem gestorben war. Bald wurde bekannt, dass ein neuer Einsiedler in die Höhle gezogan war, und die Leute aus der Umgebung pilgerten zu den Felsen, wo sich die Einsiedelei befand.
Unter ihnen war auch Jean, der Stiefbruder von Joseph. Als er die Kapelle betrat, sah er einen Mann, nicht viel älter als er selbst und wie er ihm in die Augen schaute, erkannte er ihn und rief er: „Joseph, Bruder Joseph!“
Wie gross war die Freude über das Wiedersehen und Bruder Joseph brach sein langes Schweigegelübde. Er hörte, dass Pater Romuald auf dem Sterbebett lag und sehnsüchtig auf ein Zeichen von Joseph wartete.
Als Joseph das Kloster Hauterive betrat, erkannte ihn kaum jemand. Er war hager und sein Bart reichte ihm bis zur Brust. Doch Pater Romuald erkannte in ihm sogleich sein lang vermisstes Findelkind. Das ganz Kloster feierte seine Rückkehr. Bruder Joseph blieb im Kloster und erzählte dem sterbenden Pater von seinem Einsiedlerleben, das er oben in den Höhlen führte, damit seine Seele Frieden finden konnte.
Als Pater Romuald starb, zitierte Bruder Joseph folgenden Spruch: „Mein Vater und meine Mutter haben mich verlassen, aber der Herr hat mich durch die Hände dieses Ordensmannes zu sich genommen.“
Nachdem Pater Romuald seine letzte Ruhestätte gefunden hatte, zog Bruder Joseph wieder in seine Einsiedelei.
Die Menschen pilgerten zur Höhle und erhielten von Bruder Joseph Trost.
Einmal kam ein Mann in die Einsiedelei und bat: „Ich muss mir etwas von der Seele reden, denn gestern ist eine Frau gestorben, die seit fünfzig Jahren als verrückt galt. Aber am letzten Tag rief sie mich zu sich und erinnerte mich daran, dass sie als junge Frau bei meinem Bruder als Magd gearbeitet und das ihr anvertraute mutterlose Kind bei einem Unwetter verloren hatte. Sie litt ihr Leben lang darunter, dass niemand wusste, was aus dem Kind geworden war.“
Bruder Joseph hörte zu, dann fragte er: „Woran hätte man das Kind erkennen können?“
„Nun“, sagte der Mann, „es hatte einen braunen Fleck unter dem rechten Ohr.“
Da drehte Bruder Joseph seinen Kopf, so dass der Mann den Fleck unter dem rechten Ohr sehen konnte und sprach gerührt: „Gott hat dich zu mir geführt. Du bist mein Onkel!“
Es war wie ein Wunder, als sich der Eremit bald darauf auf den Weg nach Onnens machte und der Vater den verlorengeglaubten Sohn in die Arme schliessen konnte. Man bot Joseph ein gutes Leben im Haus der Familie an, doch er kehrte in die Einsiedelei zurück, dort wo er seine Bestimmung gefunden hatte. Den Rest seines Lebens verbrachte er in Frieden, denn nun wusste seine Seele, wer sein wahrer Vater war. Als er im hohen Alter starb, waren seine letzten Worte:
„Ich gehe jetzt ein in das Haus meines Vaters!“

Fassung Djamila Jaenike, nach: „L’Ermite de la Magdeleine“aus : J. Genoud, Légendes Fribourgeoises, Fribourg 1892. Aus dem Französischen übersetzt, und neu gefasst unter Mitwirkung von Rita Riedo © Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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