3333333 Eicheln

Land: Japan
Kategorie: Zaubermärchen

 

In einem Dorf lebte einmal ein Mann, der hatte drei Söhne. Die beiden älteren halfen ihm bei der Arbeit. Der jüngste aber, Dschinroku, war zwar nicht faul, doch wenn er irgendwo jemanden eine Geschichte erzählten hörte, vergass er die Arbeit und liess alles liegen. Es nützte nichts, dass der Vater ihn zur Strafe nicht mehr aus dem Haus liess. Denn kaum hörte er, dass die Märchenerzähler ins Dorf kamen, da nahm er das letzte Geld und ging auf den Dorfplatz, um ihnen zuzuhören. Der Vater schimpfte mit ihm, und die Brüder lachten ihn aus, doch Dschinroku sagte nur: «Es waren so wunderbare Geschichten. Ich wünschte, ich könnte auch so gute Märchen erzählen.»
So vergingen die Jahre, und als der Vater älter wurde, rief er die drei Söhne zu sich und sagte: «Ich gebe jedem von euch drei Silbermünzen. Geht damit in die Welt hinaus, sucht euer Glück und kehrt dann wieder zu mir zurück.»
Die drei Brüder gingen gemeinsam los, bis sie zu einer Kreuzung kamen. Dort ging der älteste nach rechts, der zweite nach links und Dschinroku immer geradeaus. Er wanderte, sang und freute sich auf die vielen spannenden Geschichten, die noch auf ihn warteten. Schliesslich kam er zu einem Wald, und weil es schon dunkel wurde, beschloss er, unter einem Baum zu schlafen. Er nahm etwas trockenes Laub, um sich damit zuzudecken, und war schon bald eingeschlafen. Am nächsten Morgen wurde er von Stimmen geweckt. Er rieb sich die Augen und sah zwei Bettler neben sich an einem Feuer sitzen und in einem Topf rühren. «Wir haben hier auf dich aufgepasst», sagte der eine. «Komm, du kannst etwas von unserem Reis essen», meinte der andere. Da setzte sich Dschinroku zu ihnen, ass seinen Reis und meinte: «Das ist sehr freundlich von euch. Ich möchte mich bei euch bedanken.» Er nahm zwei der drei Silbermünzen und schenkte jedem Bettler eine davon. Die beiden armen Männer freuten sich sehr, dann sprachen sie: «Wir möchten dir etwas schenken, wer weiss, wann es für dich von Nutzen ist.» Sie gaben ihm eine Nadel und einen Faden und sagten: «Das sind Zauberdinge. Die Nadel durchsticht alles, was du willst, und der Faden nimmt niemals ein Ende.» Dschinroku bedankte sich für das Geschenk, nahm Abschied und wanderte weiter. Sein Weg war weit und führte über Berge und durch tiefe Schluchten. Einmal, als er durch ein enges Tal wanderte, kam ihm ein alter Mann entgegen. Er trug eine Mütze mit Goldfäden darin, einen Mantel, der mit Blumen bestickt war, und an den Füssen schöne Bastsandalen. Der Mann trug einen langen weissen Bart, doch sein Gesicht und seine Augen leuchteten, als wäre er noch jung. Dschinroku grüsste den Fremden, und dieser sprach: «Du siehst aus, als würdest du gerne Geschichten hören.»
«Oh ja», rief Dschinroku, «Geschichten liebe ich über alles!»
«Kannst du sie denn auch gut erzählen?»
«Nun, leider nicht. Wenn ich erzähle, schlafe ich vor lauter Langeweile ein.»
«Das ist schade», meinte der Alte. «Denn hinter diesem Wald lebt ein Fürst, und dieser hat demjenigen seine Tochter versprochen, der ihm die unglaublichste Geschichte erzählt. Aber ich kann dir helfen, denn ich verkaufe gute Geschichten. Willst du mir eine abkaufen?»
«Gern, wie viel kostet sie denn?»
«Die billigen habe ich alle schon verkauft. Nur eine einzige ist noch in meinem Sack, sie kostet eine Silbermünze.»
«Genau so viel habe ich noch», rief Dschinroku erfreut. «Wird sie mir denn auch Glück bringen?»
«Aber natürlich», meinte der Alte, «schliesslich ist es meine schönste Geschichte.» Daraufhin hob er seinen Sack an Dschinrokus Ohr, schüttelte ihn ein wenig, und die Geschichte sprang direkt vom Sack in Dschinrokus Ohr. «Das ist aber eine seltsame Geschichte», sagte Dschinroku. Dann verbeugte er sich und machte sich auf den Weg in die Stadt. Unterwegs lauschte er der Geschichte in seinem Ohr, manchmal stolperte er oder fiel gar um, und immer wieder rief er aus: «Das ist aber eine seltsame Geschichte!» Endlich kam er in den Palast und liess sich zum Fürsten bringen.
«Ich komme, um euch die beste Geschichte in ganz Japan zu erzählen.»
«Gut», antwortete der Fürst. «Wenn es dir aber nicht gelingt und ich mich langweile, so verlierst du deinen Kopf!»
Dschinroku erschrak, als er dies hörte, doch nun war es zu spät, also fing er an zu erzählen: «Vor langer Zeit wuchs einmal eine Eiche, die war so riesig, dass ihre Äste von der einen Seite Japans bis zur anderen reichte. Ihr Stamm war so dick, dass dreihundertdreiunddreissig Menschen sie gemeinsam umfangen konnten, und so hoch, dasss sie dreihundertdreiunddreissig mal so hoch war wie dieser Palast hier. Seine Krone wuchs bis in die Wolken hinauf. In den Wolken oben wohnte ein Mann, der wollte sehen, woher diese Eiche kam. Also stieg er an einem Ast nach unten, bis er zu einer Astgabelung kam und sich dort etwas ausruhte. Es war gerade Herbst, und die Eicheln fielen vom Baum. Die erste fiel auf das Dach eines Tempels im Norden, die zweite in den Krater des Berges Fudschi, die dritte in den See Biwa im Süden …»
«Gut», meinte der Fürst, «ich verstehe, aber was geschah dann?»
«Eine andere Eichel streifte ein Glöckchen auf der Insel Schikoku, eine fünfte …»
«Wie viele Eicheln waren es denn?», wollte der Fürst wissen.
«Oh, es waren sehr viele, nämlich genau drei Millionen dreihundertdreiunddreissig-tausenddreihundertdreiunddreissig. Und jede der drei Millionen dreihundertdreiund-dreissigtausenddreihundertdreiunddreissig Eicheln hat ihre eigene Geschichte.»
«Aber», wollte der Fürst wissen, «wie konntest du sie alle zählen?»
Da zögerte Dschinroku, denn er kannte zwar alle Geschichten von jeder einzelnen Eichel, aber keine darüber, wie die Eicheln gezählt wurde. In diesem Augenblick fielen ihm die Geschenke der Bettler ein. Er zog die Nadel und den Faden hervor und rief: «Das war ganz einfach. Ich habe jede einzelne mit dieser Nadel durchstochen, auf einen langen Faden gefädelt und gezählt. Wenn ihr es mir nicht glaubt, werde ich es euch zeigen. Ich zähle jetzt alle Blüten in eurem Garten.» Mit diesen Worten warf er die Nadel mit dem Faden aus dem Fenster in den nächsten Kirschbaum. In diesem Augenblick hörte man einen Aufschrei und bald darauf etwas Schweres, das zu Boden fiel. Alle eilten zum Fenster, und was mussten sie sehen: Die Nadel hatte einen Räuber direkt ins Herz getroffen, als er soeben dabei war, vom Baum in den Palast zu klettern, um den Fürsten zu töten. Der Fürst war so dankbar, dass er Dschinroku nicht nur seine Tochter zur Frau gab, sondern ihm auch den Palast mit den vielen Kirschbäumen im Garten schenkte.
So hat die Liebe zu den Geschichten dem Jüngsten doch noch Glück gebracht.

Märchen aus Japan, aus: Kindermärchen für Gross und Klein © Mutabor Verlag. Dieses Märchen ist Teil des IdeenSet Märchen der PH Bern.

 

 

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