Vor etlichen Jahrzehnten lebte im Oberland ein frommes altes Weiblein. Sein Leben lang besass es eine warme Zuneigung zu den armen Leuten.
Ihnen schenkte es alles, was es besass. Kein Bettler und kein Darbender ging unbeschenkt von der Türe der wohltätigen Frau. Für sich selber behielt sie nicht einmal den letzten roten Heller.
Was sie durch ihrer Hände Fleiss verdiente, ging
den Weg des Guten. Wohin die Gute ihre Schritte
lenkte, da wichen Not und Elend, und Freude und Glück zogen ein. Unter lauter Wohltun und Trösten wurde die Frau alt und grau. Das Sterbestündlein nahte. Nichts besass die Wohltäterin der Armen mehr, als das Allernotwendigste. Der Geldschrank war leer, alle entbehrlichen Sachen waren in die Hände der Armen gewandert, keine lachenden Erben konnten sich auf einen Gold- oder Silberschatz Hoffnung machen. Als die Greisin in den letzten Zügen lag, liess sich irgendwo ein helles Klappern und Klirren vernehmen, wie wenn ein Geldstück auf den Boden fiel. Man suchte die Münze aufzuheben, doch sie lag nicht auf dem Boden. Unruhig blickte die Sterbende umher. Immer lauter klapperte es. Das Geräusch kam vom Kleiderschrank. Als man ihn durchsuchte, entdeckte man in einer Rocktasche ein vergessenes Fünfzigrappenstück. Das allein war vom Vermögen der freigiebigen Frau noch übriggeblieben und aus Versehen in der Tasche zurückgelassen worden. Nach dem Willen der Sterbenden wurde auch diese Münze noch weggegeben. Erst jetzt konnte die mildtätige Greisin ruhig ihre Augen schliessen.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.