Hoch gingen die Wogen der Volkswut im broyardischen Städtchen Estavayer, fast so stürmisch wie die gischtschäumenden Wellen des Neuenburgersees. Anlass dazu gab die Gefangennahme der übelbeleumundeten Marmeta, welche der Hexerei, Zauberei angeklagt war. Die arme Frau war wie tausend andere an diesem Verbrechen unschuldig. Sonstige Frevel beschwerten aber ihr Gewissen, die sie in der Beichte nicht zu bekennen wagte. Von Vorwürfen gepeinigt, machte Marmeta eine Wallfahrt zu Unserer Lieben Frau vom Karmel in Bürglen. Dort erhielt die Sünderin nach reumütiger Beichte den langersehnten Herzensfrieden. Der Kaplan empfahl der Büsserin, sich und ihr Haus dem Schutze Mariens anzuvertrauen. Ausserdem gab er ihr ein hochgeweihtes «Agnus Dei», das sie beständig tragen sollte. Glücklich kehrte die Pilgerin heim. Zwei Jahre lang befolgte Marmeta den Rat des Geistlichen. Aber eines Tages legte sie das Agnus Dei ab; sofort gewann das Böse die Oberhand und die Versuchte fiel in ihr früheres Sündentreiben zurück.
Jetzt schmachtete die Unglückliche im finsteren Turmverlies. Bis dort herauf drangen die Verwünschungen und Flüche des verhetzten Volkes. Und in finsterer Nacht suchte die Gefangene ihrem harten Los zu entrinnen. Dem heftigen Rütteln der sehnigen Hände gab das Gitter nach und die Frau stürzte zehn Meter tief auf den gepflasterten Boden; wunderbarerweise erlitt sie vom Sturz nicht den geringsten Schaden. Am andern Morgen wurde Marmeta vom Richter zum Tode verurteilt. Dem begleitenden Priester teilte die Sünderin auf dem letzten Gang mit, sie sei einst in die Rosenkranzbruderschaft in Bürglen eingeschrieben worden; sie wünsche, dass auch ihre Tochter dieser Bruderschaft beitrete. Mit dem letzten Gruss an die ferne Tochter gab sie dem Priester die Weisung, nach ihrem Tod den Rosenkranz, den sie auf dem Richtweg in den Händen trug, ihr zu übersenden.
Die Hexe wurde vor den lüsternen Augen der mitleidlosen Menge enthauptet. In der Aufregung vergass der Geistliche sein Versprechen. Der entseelte Leichnam wurde sofort dem Feuer übergeben. Einige Tage nach dem schaurigen Vorfall wühlten Bauernkinder mit ihren Haselstecken in der Asche. Da kam der Verbrannten Rosenkranz samt dem Agnus Dei ganz unversehrt zum Vorschein. Natürlicherweise hätten die hölzernen Rosenkranzkörner von den gierigen Flammen verzehrt werden müssen. Die Kinder stiessen Schreie der Verwunderung aus; sofort sprangen sie mit ihrem wundersamen Fund zum Ortspfarrer Franz Cropfet. Er versuchte, die Körner zu verbrennen, doch sie widerstanden der gefrässigen Glut und blieben so hart, als ob sie neu aus der Werkstätte eines Giessers hervorgegangen wären.
Der Chronikschreiber sah den wunderbaren Rosenkranz mit eigenen Augen in den Händen des Pfarrherrn von Stäffis. Gewiss wollte der Himmel die Macht der Rosenkranzkönigin bekräftigen; für die arme Marmetta wurde er das Mittel zur Rettung ihrer gefährdeten Seele.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www. maerchen.ch