In einer Sennhütte der Greyerzer Alpen lebten die Bewohner seit einiger Zeit in grosser Angst. Wochenlang hatten sie einen unerklärlichen Diebstahl. Wenn der Meisterknecht vormittags in der Milchkammer den dicken Rahm abnehmen wollte, fand er die Gebse regelmässig halb leer. Die Nidel war schon sorgfältig abgehoben, als ob der geschickteste Senn hier gearbeitet hätte. Vom Dieb zeugte keine Spur, so genau auch alle Ritzen und Winkel durchsucht wurden. So ging es Wochen hindurch fort. Kein Senne betrat die Milchkammer, ohne ein unerklärliches Grauen zu fühlen. Ein beherzter Senne versuchte endlich dem geheimnisvollen Milchdieb auf die Spur zu kommen. Aus diesem Grunde wollte er eine Nacht im Gaden verbringen. Er schloss sich also eines Abends in den Gaden ein und wartete daselbst auf die Lösung des Rätsels.
Allzu langsam verstrichen dem Horchenden die Stunden. Fast wäre er versucht gewesen, gegen sein Vorhaben die Kammer zu verlassen, aber damit hätte er sich dem Gespött der Kameraden ausgesetzt. Deshalb blieb er fest. Nach endlosem Warten vernahm der Lauscher ein Schleichen und Streichen. Das Geräusch näherte sich in der Richtung gegen die Milchbänke zu, wo die Gebsen standen. Beim schwachen Licht des Mondes, der durch die Ritze hereinschimmerte, erblickte der angsterfüllte Späher einen Kopf, der sich über die gefüllten Gebsen hinabsenkte. Der Senne glaubte es vor Grauen nicht mehr aushalten zu können. Die Angst presste ihm die Kehle zusammen. Aber in dem Augenblick zu fliehen, wo er den Milchfrevler enttarnen konnte, nein, so feige wollte er nicht sein wie ein Hase. Der Senne raffte sich zusammen, tastete behutsam in die Hosentasche nach seinen Zündhölzchen und strich schnell ein Streichholz an. Im kurzen Aufflackern des Hölzchens erblickte der Bursche eine riesenlange Schlange. Durch die ungewohnte Helle geblendet, hob die Schlange den Kopf von der Gebse auf. Sekundenlang starrte das Tier den Störefried, der keiner Bewegung mehr fähig war, an, dann glitt es lautlos von der Milchbank herunter, schielte den Späher noch einige Augenblicke mit Giftaugen an, worauf sie eilig in einen Holzhaufen schlüpfte, der ihr in der Gadenecke schon lange als Schlupfwinkel gedient hatte.
Mehr tot als lebendig verliess der wackere Senne sein unangenehmes Versteck und kroch zähneklappernd in sein Bett. Der Dieb war gefunden. Es blieb nichts anderes übrig, als am nächsten Tag das Holz vorsichtig zu entfernen und die grosse Schlange mit Stangen tot zu schlagen. Das gefährliche Unternehmen gelang den Sennen auch glücklich. Seither waren die Gebsen nicht mehr angerührt worden. Der waghalsige Bursche schwor, sich nie mehr in solch gefährliche Abenteuer einzulassen.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.