(St. Niklaus)
Unleugbare Spuren grosser Erdrutsche und gewaltiger Bergstürze finden wir im gebirgigen Wallis viele. Die Sage schreibt deren mehrere entweder bergzernagenden Drachen oder schlimmen und schadenbringenden Geistern zu und lässt manche fruchtbare Gegend, selbst blühende Dörfer mit Mann und Maus untergehen und verschwinden. — So wird erzählt, der grosse Bergschutt zwischen St. Niklaus und Herbriggen, auf dem nun der Madwald und das Madsand steht, habe ein Dorf, mit Namen Mad zerstört und begraben. Schon dieser Name scheint anzugeben, dieses Dorf habe in Wiesen gestanden, die gemäht wurden. Auch gewinnt das vorhanden gewesen sein eines solchen Dorfes an Wahrscheinlichkeit, weil es einer ziemlich ausgedehnten Gemeinde bis auf unsere Zeiten den Namen gegeben hat.
Über diesen Bergsturz erzählen sich die Leute folgende traurige Sage: — In "Blattbach", auf dem westlichen Vispenufer dem obgesagten Madwald gegenüber, lebten zwei Geschwister miteinander in unerlaubten Verhältnissen. Als die Sache ruchbar werden musste, weil die Schwester in gesegneten Umständen sich zeigte, fürchtete sich der Bruder sehr vor den üblen Folgen seines Verbrechens; er trachtete darum seiner verführten Schwester nach dem Leben. Um aber sowohl dieser als der Welt sein ruchloses Vorhaben zu verbergen, streute er runde Erbsen auf die schmale Brücke, über welche sie täglich zum Viehfüttern nach den Madmatten gehen musste. Diese setzte ihren Fuss, keine Gefahr ahnend, sorglos auf die gestreuten Erbsen, glitt aus und fand im Wasser den Tod.
Gleich liessen sich im Gebirge ob dem Dorfe Mad unruhige Geister hören, welche Erdmassen und Felsen herunterwälzten. — Der schuldbewusste Bruder, vom doppelten Verbrechen im Gewissen gequält, ward wahnsinnig und entleibte sich selbst. - Und der Geisterspuk wurde noch ärger im Gebirge. Bald war das Dorf Mad und die Umgegend überschüttet und eingesandet. — Die Leute, noch mehr Unheil fürchtend, nahmen ihre Zuflucht zu frommen Ordensmännern, welche mit geweihten Wachslichtern und unter beständigem Gebete den Berg hinanstiegen und den Geistern auch bald auf die Spur kamen. Sie fanden drei Gespenster, unter denen aber das kleinste, das wütendste und unbändigste war. «Nie habe ich einem Menschen was Leides getan», kreischte es, «unschuldig bin ich zu Grunde gerichtet worden! Ich habe darum Vollmacht zur Rache und grausen Zerstörung. Ich werde zu wühlen nicht aufhören, bis der Riedbach hier zu Tale fliessen und die Vispe bis zur Lerchfurren wird aufgestaut sein.» Indessen mussten die Geister doch vor den Gebeten der frommen Pater weichen.
Bei anhaltendem Regenwetter, besonders im Frühjahr bei der Schneeschmelze, wird noch immer bedeutendes Erd- und Steingeröll zu Tal getrieben. Darum wird noch alle Jahre am 20. Juli zur Kapelle der Hl. Margaretha eine Prozession gehalten, um grössere Zerstörungen abzuwenden. Früher war dieser Tag für die Leute im Madsand ein gebotener Festtag und alles Schwören, Fluchen, Spielen, Saufen und Tanzen sollte in der Umgegend strenge und für immer verboten sein. Natürlich achtet man jetzt auf so altes Zeug nicht mehr.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch