Unter den zahlreichen Gletschern, welche die höchsten Gebirge der Kantone Glarus und Uri zieren, ist der Clariden auf der Grenze beider Kantone unstreitig einer der grossartigsten. Eisfelder bedecken in weitem Umfange die luftigen Höhen, wo nur kühne Gemsen und scheue Schneehühner die erhabene Bergesstille beleben. Das war nicht immer so. Nach der Volkssage war der Gletscher einst eine der schönsten Alpen der Innerschweiz. Das freundliche Grün, von buntfarbigen Alpenblumen durchwirkt, tränkte ein kleiner Bach, vom nahen winzigen Gletscher gespeist. Muntere Kühe weideten im saftigen Grase, und eine malerische Alphütte beherbergte Senn und Gehilfen.
Ein Senn, im sorgenfreien Alpenleben übermütig geworden, vergass seine armen Eltern im Tale, vergass die kindliche Pflicht und wandte der Tugend den Rücken. All sein Sinnen und Trachten galt einem lebenslustigen Mädchen, das in jugendlicher Schönheit sein Herz bestrickte und im Tale gar häufig Geschenke und Grüsse erhielt. Doch die Trennung wurde dem Hirten zu lange; die Geliebte sollte in blumiger Alp die Sommertage bei ihm verleben. Der ersehnte Tag kam, und eine weite Strecke des Weges belegte der übermütige Senn mit seinen Käsen, schmückte die Kühe mit bunten Bändern und eilte in festlichem Gewand dem Mädchen entgegen. Schlickernd durchwandelten sie die Alptriften; was der Segen des Himmels dem Hirten Gutes gespendet, wurde vergeudet. Die Glut zur Bereitung der Speisen wurde mit Butter genährt, selbst «Brändi», die Lieblingskuh, und «Paris», der Hund, wurden mit Leckereien gefüttert. Drunten im Tale aber darbten die Eltern in Krankheit und Not. So reihte sich Tag an Tag auf der Alp in sündhafter Freude, im Tale unten die drückende Armut. Da brach das Herz des Vaters in schlafloser Mitternachtsstunde in einen schrecklichen Fluch aus über den hartherzigen Sohn und – o Entsetzen! – es kracht und donnert hoch oben am Berge, es zittern die Felsen, und im hundertfältigen Echo hallt die Gebirgswelt der Eislawinen Getöse schauerlich zu Tale.
Der frühe Sonnenstrahl des folgenden Tages sucht umsonst nach den blumigen Triften der Claridenalp; Tod und Erstarrung ringsum, nichts als Eis und Eis deckt weit umher die Gefilde. Verschwunden sind Alp und Hütte. Der Herr hat gerichtet.
Wer in der Mitternachtsstunde dort vorüberkommt, vernimmt oft durch die Stille ein leises Weinen und Klagen, und in wildem Lauf eilt «Brändi» über das Eisfeld. Wäre nun ein Hirte da, der diese Kuh auffinge und lautlos ihr ehernes Euter melken wurde, so könnte der Senn und seine Geliebte erlöst werden, und zurückweichen würde das Eisfeld in seine alten Schranken. Allein, wer wagt es? so klagten die Leute. «Ich will es wagen», dachte ein mutiger Hirte, und hinauf zog er auf unwegsamen Pfaden in schweigender Nacht. Die Stunde war da, und in wildem Laufe sauste «Brändi» daher. Der Hirt hielt die geisterhafte Kuh an und setzte sich hin, das stachlige Euter zu melken. Schon floss Blut aus seinen Händen, still hatte er geduldet, doch heftiger wird der Schmerz und «Ach, du lieber Gott!» seufzte er. Wie der Seufzer entflohen, riss die gespenstige Kuh sich los und sauste von dannen. Seither wagte keiner mehr die Rettung. Jahrhunderte schon eilten vorüber, nicht bewegte sich das Eismeer, und die Decke der starren Eiswüste kann kein Sonnenstrahl erweichen.
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch