Oben in den Näfelserbergen lebte vor etlichen und hundert Jahren ein Geissbäuerlein, das seine kleine Herde ins Wildheu trieb. Damit seine lieben Ziegen kein Unglück treffe, bewahrte der fromme Mann in seiner Hütte gesegnetes Brot, sogenanntes Agathenbrot, und gesegnete Kohle auf.
An einem Nachmittag sass unser Bäuerlein zufrieden auf einem Stein und hütete, als ein Gewitter über dem Brünnelistock heraufzog. Sofort rief es seine Schützlinge zusammen und schlüpfte mit ihnen in die niedere Hütte. Es war höchste Zeit, denn schon brach ein wahres Unwetter los. Der Hirte dankte Gott, dass er unter Dach war, und überzählte nochmals seine Geissen. Zum grössten Schrecken fehlte die schönste, die am meisten Milch gab. Sofort lief er hinaus, um sie zu suchen. Als er um die Hütte bog, sah er weit unten eine weisse Gestalt, welche die Vermisste fortführte. Wütend und doch mit geheimem Grauen verfolgte er die Gestalt. Der Weisse band das Tier an eine Tanne, kletterte katzenflink hinauf und lauerte auf das Bäuerlein. Dieses rannte herbei und erschrak nicht wenig, als es in den Ästen einen unheimlichen Geist erblickte. Es war auch ein grässlicher Anblick, denn der Körper war nicht aus Fleisch und Blut, sondern durchsichtig und nur mit flatternden Hemdfetzen bekleidet. Das Scheusslichste waren aber die langen, gelblichen Zähne, mit denen der Geist fletschte.
Doch der Bauer fasste sich ein Herz, trat unter die Tanne und band die Ziege los, während das Gespenst krächzte:
«Hettisch du nüd Agathebrot und Füüreliheiss,
wüürdisch nüd losbinde di Geiss!»
Wohlbehalten gelangte das Bäuerlein mit seinem froh meckernden Tier in die Hütte zurück. In jener Nacht konnte der Mann kein Auge schliessen, denn er sah noch immer den weissen Geist vor sich.
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch