Am südlichen Fusse des Bürgenberges (Bürgenstock) im Kanton Unterwalden (Nidwalden) bei der Sankt Antonskapelle einige hundert Schrittem aufwärts, vom See an gerechnet, befindet sich in einer haldigen Wiese eine kleine Höhle von zerklüfteten Kalksteinen gebildet. Diese Höhle teilt sich in Gänge von verschiedenen Richtungen, die aber wegen ihrer Engheit dem Besuchenden unzugänglich sind. In einer der Vertiefungen erblickt man, wenn man den dunkeln Raum mit einer Fakel erleuchtet, im Hintergrunde Wasser, in welchem man bisweilen das Geräusch von schweren unterirdischen Wassertropfen vernimmt, oder ein Brausen gleich unterirdischen Luftströmungen. Dass diese unheimliche Erscheinung zu allerlei Vermutungen Anlass geben musste, war bei dem unkundigen Volke natürlich. Mehr aber musste noch auffallen, dass das Wasser im Hintergrunde der Höhle plötzlich anwächst und brausend und schäumend den Bauch des Berges verlässt, um in einem selbst gegrabenen Bette sich dem See zuzuwälzen. Das Wasser selbst ist hell, klar und frisch, in seiner spezifischen Schwere beinahe dem filtrierten Regenwasser gleich. Diese Erscheinung ist allerdings sehr merkwürdig, wenn man sieht, dass es wie von einer Laune des Baches abhängt, sein Wasser zwei bis drei, ja bis sechsmal des Tages aus dem Schosse des Berges zu stossen, um es schäumend und tosend dem See zuzuschicken. Die Strömung dauert aber sehr ungleich, oft kaum eine Viertelstunde, oft stundenlang und oft noch länger, man hat ihn öfters den halben Tag fliessen gesehen. Wenn er aufhört, so geschieht es in kurzer Zeit, sein Bett wird wieder ganz trocken, um aufs Neue wieder von den Wellen bespült zu werden. Vor seinem Erscheinen soll ein dumpfes Brausen vernommen werden, so wie auch bei seinem Rückzuge. Diese Ergüsse sind keineswegs regelmässig, sie hangen unzertrennbar mit der Menge der wässerigen Niederschläge der Atmosphäre zusammen. Liegt im Winter viel Schnee auf dem Berge, tritt Tauwetter ein oder weht der Föhnwind, so wird der Berg zum Filtrum für den zu schmelzenden Schnee. Das Wasser sammelt sich in der Berghöhle, wie in einem leeren Fass; ein Kanal führt aus demselben, wie aus einem Weinheber das Wasser zu Tage, und so scheint sich der einmal gefüllte Raum zu entleeren. Dass dabei die Luft das ihrige tun muss, versteht sich von selbst. Das Nämliche geschieht nach starkem Gewitterregen oder anhaltendem Regenwetter.
Von dieser periodischen Quelle, oder von dem Friedhöfler, wie ihn die Leute nennen, geht die Sage, dass wer am Eingang der Höhle stehe, das Wasser herausfordere und nicht an die Macht des Berggeistes glaube, der soll seinen Fluten nicht entrinnen können, sie würden ihn unfehlbar in dem See begraben.
Unter anderm erzählt die Sage von einem alten Mütterchen, das aus dem Welschland kam und sich im Besitze vieler Zauberkünste rühmte. Die Zigeunerin, die, wie sie vorgab, sich kugelfest machen konnte und ein Mittel besass, im Wasser nicht zu ertrinken, hörte von dem merkwürdigen Maibrunnen und begab sich an seine Höhle. Dort angekommen, steckte sie das zusammengeschrumpfte Gesicht in die Öffnung und schrie:
Wasser! Wasser! komm heran!
Wenn dein Arm mich packen kann,
Will mit dem Kopf ich zahlen.
Kaum war diese Herauoforderung geschehen, so fing es im Innern des Berges an zu brausen und ein kalter Luftstrom strich aus dem Loche, dass sich die Blätter der nahe stehenden Bäume bewegten. Indem das Mütterchen seine Herausforderung wiederholte, schritt es trotzend durch das trockene Bachbett gegen den See hinunter. Noch einmal rief es höhnend: „Wasser! Wasser! komm heran!" Da zeigte sich plötzlich eine kleine Welle, die seinen Fuss benetzte. „Ha," sagte es, „wenn der Berggeist nicht mehr Wasser zu senden vermag, so soll er hübsch schweigen." Bei diesen Worten rauschte eine stärkere Welle vorüber. Dem Zigeunermütterchen fing es an unheimlich zu werden, es wollte aus dem Rinnsale über das buschige Bachufer klettern, da packte ein Dorn den Saum seines Kleides und indem es sich von dem lästigen Wegelagerer befreien wollte, rauschte brausend und schäumend das Wasser um seine dürren Beine. Ein anderer Dorn stach es in die Hand, dass es plötzlich den ergriffenen Ast fahren liess, und rückwärts ins Bachbett musste, um einen andern Ausweg zu suchen. In diesem Augenblicke rauschte Welle an Welle und immer höher angeschwollen wälzte sich der Bach in Sätzen und Sprüngen. An Steine und herabhängende Gesträuche sich klammernd schrie das Weibchen ängstlich nach Hülfe; allein umsonst, die tobende Flut spülte es auch vom letzten Anhaltspunkte und so sah man das unglückliche Opfer, nur hier und da eine Hand oder einen Fuss aus dem weissen Schaume regend, furchtbar zerschellt dem See zutreiben, wo es heute noch begraben liegt.
Allein die Stimme seines wandelnden Geistes soll jetzt noch in der Höhle tönen. Einige meinen man höre: „Tropf! Tropf! Tropf!" andere glauben es heisse: „Kopf! Kopf! Kopf!" weil das Mütterchen nach seinem Kopfe schreie, mit dem es seinen Frevel bezahlen musste. Warum man aber den Bach Friedhöfler nennt, ist nicht zu erraten, wenigstens zeugt sein ungestümes Wesen von keiner Friedhofsruhe.
Quelle: Alois Lütolf, Sagen, Bräuche, Legenden aus den fünf Orten Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug, Luzern 1865. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch.