Totenprozession (Bellwald)

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Diesen Mann kannte ich noch gut, als ich schon erwachsen war. Er ist 1908 gestorben. Der wohnte in den Bodmen und kam einmal in der Nacht heim, wahrscheinlich von Fiesch her. Als er im "Balebach" über die Brücke schritt, geriet er da auch in den Gratzug. Voran zog ein hässliches, grosses Tier mit aufgesperrtem Rachen und weiss Gott in was für einer Gestalt und Hässlichkeit. Der gute Mann meinte, jetzt sei er futsch, und er machte noch ein Kreuzeichen und eine gute Meinung. Darum musste das Tier unterhalb der Brücke durch. Sonst wäre es dem Mann wahrscheinlich schlecht gegangen.

So passierte ihm nichts. Nur, als er heimkam und die Stubentüre öffnete, fiel er der Länge nach über den Boden hin und verlor den Sinn. Das war der alte Hansjob, der Johann Joseph Holzer.

Hier im Volk heisst das Gratzug, weil sie jede Nacht über neun Gräte und neunundneunzig Friedhöfe wandern mussten. In der Walliser Sage nennt man das Totenprozession.

 

Ein Mann aus Bellwald hirtete in der Schlettru gegen Niederwald das Vieh. Der kehrte am Abend nicht nach Bellwald zurück, sondern schlief im Stall. Einmal blickte er in der Nacht zu einem kleinen Guckloch hinaus. Und da kam auch diese Totenprozession, und er schaute ihr zu, wie sie betend vorbeizogen. Zuletzt war einer, auf einem Hahn sitzend. Das kam diesem Bellwalder eher spasshaft vor, und er meinte: «Dü bischt e Narr und plibscht e Narr!» Da sprach eine arme Seele zur andern: «Gang abe da ga denu Tubul istoossu!» Auf der Stelle erblindete der Zuschauer an dem Auge, womit er hinausgeschaut hatte.

Am andern Tag ging dieser Mann zum Pfarrer und erzählte ihm betrübt die Geschichte. «Ja, das ist eine böse Sache, das hättest du nicht sagen sollen!» mahnte der Pfarrer. Er merkte sich aber das Datum, es war im Jahre 1897, und er befahl ihm: «In einem Jahr, am genau gleichen Abend, gehst du wieder in diesen Stall und schaust hinaus. Sobald du diesen Mann wieder siehst, sprichst du ihn an: «Dü bischt sälig und plibscht sälig!»

Nun gut, das Jahr ging vorbei. Am gleichen Abend schaute der Bellwalder zum Guckloch hinaus und erblickte auch wieder die Prozession. Am Schluss ritt der Mann auf dem Hahn. Der Bauer rief: «Dü bischt sälig und plibscht sälig!», und gleich darauf befahl die arme Seele der andern: «Gang abu ga denu Tubul üssazieh!» Sogleich sah der Mann wieder.

 

Dass es einen Gratzug gibt, das stimmt. Es sind noch nicht allzu viele Jahre, als ein gewisser Holzer aus Bellwald drin gekommen ist. Ich kannte ihn noch selbst. Dieser Holzer musste die ganze Nacht mitwandern und sah in der Prozession auch noch lebende Bellwalder. Am Morgen stand er beim Betenläuten in der obern Matte. Bald darauf starb er.

 

Der Gratzug zog nordwärts des Dorfes vorbei den "Balebach" hinunter, diesseits der Bodmen. Da soll einst ein Bellwalder in der Nacht vorbeigegangen und über dieses Brücklein geschritten sein. In diesem Augenblick kam der Gratzug. Der Mann benahm sich aber nicht korrekt und bückte sich. Da schritt ein Totes über ihn hinweg, und von da an blieb der Mann zeitlebens gebückt. Er konnte sich nie mehr strecken.

Es soll in der Geisterstunde zwischen zwölf und ein Uhr vorgekommen sein.

BELLWALD

Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

 

 

BELLWALD

Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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