Zu Mühlackern bei Agarn steht ein altes Steingebäude, das früher ein Wirtshaus war, dessen Wirt ein Raubmörder gewesen sein soll. Da die alte Landstrasse bei diesem Hause vorbeiführte und der Weg für die Fuhrleute und Fussgänger von der Leukersuste bis dahin immerhin lang genug war, dass sie wieder Durst verspürten, so kehrte beinahe jeder dort ein, er mochte bei Tag oder bei Nacht ankommen. Aber nicht jeder trat aus dem Hause wieder heraus. Es wurden sogar viele Reisende und Fuhrmänner im Laufe der Zeit vermisst. Doch brachte man ihr Verschwinden in Verbindung mit den Räubern, die im nahen Pfinwald versteckt waren, die Gegend durchzogen und die Wanderer ermordeten.
Eines Abends kam wieder ein müder, hungernder Wanderer zu diesem Wirtshaus. Er hätte gern seinen Hunger gestillt und seine müden Glieder ausgeruht; aber da hörte er im Innern des Hauses ein eigentümliches Geräusch und ein leises Wimmern und Stöhnen. Um nicht gesehen zu werden, schlich er um das Haus herum. An einer Ecke war eine kleine Öffnung. Er schaute hinein, und was sah er? Einen Mann auf dem Boden liegen, dem das Mordsgesindel eben den Kopf vom Rumpfe getrennt hatte. Zitternd vor Angst lief der Wanderer davon und machte bei der Gerichtsbehörde des nächsten Ortes Anzeige. Doch diese machte sich nicht viel daraus; im Gegenteil, sie tadelte den Wanderer, so brave Wirtsleute in üblen Ruf zu bringen.
Die Untersuchung unterblieb, und das Wirtsvolk betrieb sein Geschäft je länger desto dreister, so dass es sich nicht mehr scheute, während des Tages auf offener Strasse Leute anzufallen.
Eines Abends gingen mehrere Männer nach dem Wirtshaus zu Mühlackern. Nicht weit davon hörten sie ein Jammergeschrei. Zugleich sahen sie einen Reisenden die Strasse entlang fliehen, den zwei Männer, Angestellte des Hauses, verfolgten. Sobald die Räuber die Anwesenheit der herankommenden Männer wahrnahmen, kehrten sie wieder nach Hause zurück.
Der Reisende erzählte ihnen nun, er habe nicht ins Wirtshaus einkehren wollen, er sei vielmehr nur seines Weges vorwärts gegangen. Aber plötzlich habe er hinter sich Schritte gehört von Männern, die ihn verfolgten; darum habe er dann fürchterlich gejammert und um Hilfe geschrien.
Sofort gingen nun diese Männer in Begleitung des Fremden zur Gerichtsbehörde. Am folgenden Tage wurde die Hausuntersuchung vorgenommen. Die mitgenommene Mannschaft umschloss das Haus, die Behörde untersuchte das Innere des Räuberhauses. Zwei Zimmer waren verschlossen und mussten erbrochen werden. In einem dieser Zimmer fanden sie geraubte, blutgetränkte Kleidungsstücke, Messer, Beile und andere Mordwaffen. Im andern Zimmer lagen die geraubten Gegenstände. Dann gingen sie in die Kellerräume hinunter. Im hintersten Winkel des Kellers war die Erde etwas aufgewühlt. Als sie die Stelle näher untersuchten, fanden sie dort mehrere Leichen eingescharrt. Sofort wurden die Räuber gefesselt und eingekerkert. Nach einem strengen Verhör gestanden sie, mit den Räubern in Pfin im Bunde gewesen zu sein, worauf sie zum Tode verurteilt wurden.
AGARN
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch