Das Gastmahl um Mitternacht (Josef Guntern)

Land: Schweiz
Region: Brig
Kategorie: Sage

Der alte, originelle Feller-Josi von Brig, ein echtes Temperkind, war bekannt als Geisterseher. Wenn auch nur die Hälfte wahr sein sollte, was er gesehen und seinen Vertrauten erzählt, so grenzt das an das Wunderbare. Den grossen Durchzug anno 1815 soll er lange vorher gesehen haben. Ob nun die Gliserschlacht, die ihm ein Geist gezeigt haben soll, auch einstens noch stattfinden wird, mag die Zukunft lehren.

Lassen wir den Felliser-Josi selber sprechen. «Es war am Vorabend der Heiligen Drei Könige, als es vor meinen Fenstern rief- es mochte etwa gegen zwölf Uhr der Nacht sein: «Felliser-Josi, Felliser-Josi!» Ich sprang ans Fenster und rief hinunter: «Wer da?» - «Gut Freund», war die Antwort. «Komm geschwind! Fürchte dich nicht, dir soll nichts geschehen die Sache hat Eile!», so rief eine sanfte Stimme, die mir alle Furcht nahm. Es war aber so finster und regnerisch, dass ich niemand sehen konnte. Ich versprach, eilends zu kommen. Wie ich zur Haustüre hinaustrat, da sass eine Person, wie mir schien eine Frau, dicht in einen Mantel gehüllt zu Pferde. «Und was ist euer Begehren?» fragte ich. «Mich zu begleiten», war die Antwort «Und wohin?» fragte ich wieder. «Zum Gastmahl um Mitternacht. Aber wir haben Eile, fürchte dich nicht und folge nur», sprach sie. Eine so vornehme Frau, dachte ich, wird mir doch nichts zuleide tun, ich folgte ihr daher ohne Furcht. Es war finster und neblig, dass ich die Reiterin nur wie im Schatten sah; das Pferd trat so leise auf, dass ich es kaum hörte. Das kam mir so ganz unheimlich und geisterartig vor, dass ich kein Wort zu sprechen wagte; dennoch folgte ich ihr ohne Furcht. Der Weg war mir unbekannt. Wir langten endlich vor einem grossen Hause an, in dessen Hofe es von Pferden, Kutschen, Wagen und Bedienten wimmelte. Meine Reiterin wurde vom Pferde gehoben, ein Bedienter ging voran, und sie winkte mir, ihr zu folgen.

In den untern Räumen und Gängen des grossen Hauses war es dunkel und stille; höher hinauf aber waren Gänge und Treppen taghell erleuchtet, uns wallte ein lieblicher Ambraduft aus dem Speisesaal entgegen. Ein Geräusch vieler Stimmen und das Klingen der Gläser und Gerassel der silbernen Tischgeräte tönten aus der halbgeöffneten Tür des Salons. Auch diese flog auf -und umstrahlt vom Sonnenglanz der schwebenden kristallenen Leuchter, sass an reichbesetzter Tafel die glänzendste Gesellschaft. Fast unbemerkt von den Gästen schloss sich meine Begleiterin zuunterst an die Gesellschaft und ich setzte mich auf ihren Wink neben sie. Ich war stumm vor Erstaunen über das, was ich da Prächtiges sah und hörte, obwohl ich ihre Sprache nicht verstand. Ich vermag es nicht zu beschreiben, so gern ich es wollte: Denke dir einen geräumigen, hohen Saal, ringsum mit ehrwürdigen Ahnenbildern und prächtigen, in Goldrahmen gefassten Gemälden und Spiegeln ausgeschmückt; die brennenden Farben der Teppiche und Tapeten, die künstlichen Blumen in zierlichen Vasen, das goldene und silberne Tischgerät; endlich die Gesellschaft selbst im vollen Kostüme, schwarz und weiss gemischt. Alles liess mich auf den hohen Stand und guten Ton des Gastgebers schliessen.

Zuoberst an der Tafel schien mir der Urahnherr zu sein. Sein dunkles, aber freundliches Auge lief unter den langen, schwarzen Wimpern rastlos im Kreise der Gäste umher, gleichsam um die Gesichter der Anwesenden zu mustern - mit einem Wort, er war die Seele des Ganzen. Eine lange Reihe edler ritterlicher Gestalten, unter deren teils heiteren teils finsteren Stirnen rabenschwarze Augen brannten, sassen um ihn. Unter ihren langen Bärten hingen schwere Goldketten auf die Brust herab. Auch geistliche Würdenträger waren darunter. Gleich leiblich gefärbten Blumen tauchten inzwischen die mit Gold und Diamanten geschmückten Gestalten schöner Frauen und lieblicher Töchter hervor. Die vornehmen Herren schwenkten mächtige Pokale und tranken mit den hübschen Frauen Gruss und Bruderschaft. Auf leichten Schwingen schwirrte das Gespräch um die Tafel. Die feinen Weine machten die Scherze der Männer mutwilliger, und ihre Blicke wurden kühner auf die reizenden Nachbarinnen. Gewürzt von dem lispelnden Gespräch und schalkhaften Lächeln der Frauen, schien der Rebensaft ihnen noch einmal so gut zu munden und sie noch mehr zu begeistern.

Endlich rauschte die Rede in fessellosen Strömen dahin, Toaste folgten auf Toaste - da öffneten sich auf einmal die Flügelpforten des Festsaales, und die Diener trugen eine grosse Kiste herein. Diese wurde geöffnet und ein grosses Paket von Pergamentrollen entwickelt. Ein in der Nähe des Urahnherrn stehender Perückenherr, ohne Zweifel der Sekretär, fing an, auf ein gegebenes Zeichen, das allgemeines Stillschweigen gebot, laut und lange aus diesen Rollen vorzulesen. Weil mir dies langweilig vorkam, da ich nichts davon verstand, so nahm ich mir ein Herz, meine Begleiterin leise zu fragen, was man da vorlese Ebenso leise erwiderte sie, das sei die Familienchronik welche alle fünfzig Jahre der ganzen edlen Familie hier um Mitternacht vorgelesen werden müsse, bis einer aus den Nachkommen den Mut habe, ein Andenken der Dankbarkeit seinen Ahnen zu errichten, nämlich die tatenreiche Geschichte dieser edlen Familie zu verfassen und in Druck herauszugeben.

«Aber in Gottes Namen», fragte ich wieder, «ist denn unter so vielen Gelehrten dieses Hauses gar niemand, der es wagte, eine gewiss höchst interessante Familienchronik zu schreiben und zu veröffentlichen?» Sie schüttelte verdriesslich den Kopf und sagte: «Bisher noch nicht.» Da rauschte ein gewaltiger Sturm draussen durch die Wipfel der Bäume; grosse Regentropfen klirrten an die Fenster. «Was ist das?» fragte ich. Sie erwiderte erbleichend, und mit ihr schien die ganze Gesellschaft stiller und blasser zu werden: «Unsere Post kommt, wir müssen bald verreisen.» «Aber», – sagte ich der schönen und bleichen Nachbarin, «das ist doch undankbar so gleichgültig gegen die verdienstvollen Ahnen und Voreltern zu sein.» Indem ich dies sagte und sie mich mit bedeutungsvollem Blicke anschaute, dass ich schweigen solle, erschreckte mich abermals ein fürchterlicher Windstoss. Die ganze Gesellschaft wurde jetzt geisterbleich. Da schlug ein gewaltiger Stoss des draussen rauschenden Sturms ein Fenster auf und löschte alle Lichter aus. Alle Kostbarkeiten auf dem Tische und rings im herrlichen Speisesaal wurden von unsichtbarer Hand im Augenblick entfernt. Es entstand ein Getöse, dass mir Sehen und Hören verging. Unzählige Tritte bewegten sich im Saal und Hause, Abschiedsküsse klatschten, Seidenkleider rauschten, Schwerter und Sporen klirrten, Pferde wieherten, Wagen und Kutschen rasselten und donnerten davon. Ich hörte drei Uhr schlagen. Was später mit mir geschah, weiss ich nicht. Nur das weiss ich, dass ich am Morgen angekleidet und mit vom Regen durchnässten Kleidern auf meinem Bette erwachte, und das überzeugt mich, dass ich nicht träumte, sondern persönlich gegenwärtig war beim Gastmahl um Mitternacht.»

BRIG

Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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