Einst hütete ein Hirtenbüblein zwischen den schönen Dörfern Kloten und Bassersdorf, an einem kleinen Weiher, die Schafe seines Bauers. Es war ein prächtiger Föhntag, und die Berge schienen so nahe, dass es dem Büblein vorkam, es müsste nur ein Geringes laufen, um aus dem ewigen Schnee des Hochgebirges Schneeballen machen zu können. Das Weiherlein nebenan aber war so blau, als wäre nach und nach der ganze knisterndblaue Himmel hineingeschloffen.
Da legte sich das Hirtenbüblein, wie schon oft, an den kleinen Weiher und sah mit traumschweren Augen dem wunderlichen Spiel des feinen Sandes zu, der in winzigen unzähligen Goldplättchen im Wasser auf- und abstrudelte. Als ihm das aber zu langweilig wurde, begann er mit der Hand allerlei Figuren in die lautere Flut hineinzuspielen, die sie, getreuer als ein Spiegelein, wiedergab.
Auf einmal war ihm, er sehe am Spiegelbild seiner Hand etwas wie einen goldenen Ring. Rasch betrachtete er seine wirkliche Hand, aber da war kein Ring und war auch nie einer gewesen. Wie er nun wieder ins Wasser unter sich schaute, gewahrte er den Ring zum andernmale an der hineingespiegelten Hand. Aber jetzt merkte er, dass die Hand im Weiher, obwohl sie ihm alle Bewegungen nachmachte, nicht seine Hand sein konnte, denn sie war weißer als eine weiße Taube auf dem Mooracker, während doch seine eigene braungebrannte Hand einem ruhelosen Eichhörnchen glich. Unversehens fuhr die Hand aus dem Wasser, und vor seinen Augen, gar nahe, blitzte ein goldener Ring. Einen Augenblick schaute er ihn verwundert an, aber dann übernahm es ihn, denn der Ring glänzte wie der Weihnachtsstern. Er haschte darnach, griff jedoch daneben.
Da tauchte eine Jungfrau bis an die Schultern aus dem Weiher auf, und die war so weiß, dass die weiße Wolke ob ihr wie ein schwarzer Rauch am Himmel stand. Sie lächelte den erstaunten Knaben an und begann ihn mit dem goldenen Ring an ihrer Hand anzulocken und zu zänggeln. Jetzt ward er gar wohlaufgelegt, und es begann zwischen ihm und der schönen Jungfer ein anmutiges Necken, wobei er versuchte, den Ring, der immer wieder vor ihm aufglänzte wie ein Wetterleuchten, zu erwischen. Und da es ihm doch nicht gelingen wollte, ward er ungeduldig. Er bog sich übers Bord hinaus, und mit einemmal nahm ihn die Jungfer in beide Arme, und er versank mit ihr.
Kaum war er verschwunden, als sein Bauer unter den Obstbäumen hervoreilte, denn er hatte seinen kleinen Hüterbuben aufschreien hören. Friedlich weideten die Schafe um den Weiher, aber nirgends vermochte er sein Hirtlein zu gewahren, obwohl er’s doch noch vorhin durchs Gebüsch am Ufer hatte liegen sehen. Er schaute sich blitzgeschwind rundum, und dann blickte er auf den Weiher, auf dem sich große Ringe zum Bord zogen. Er warf sich auf die Knie und schaute ins Wasser, aber er bekam nichts zu sehen als eine große weiße Seerose, die sich auf den zergehenden Ringen schaukelte.
Da fuhr er schier entsetzt zurück; aus dem Goldsandstrudel im Weiher schoss auf einmal sein vermisstes Schafhirtlein bolzgrad wie eine Kerze vor ihm auf. Flink packte er’s bei der Salzlecktasche und zog’s ans Ufer. Und wie er nun sah, dass der Knabe bewusstlos war, fing er ihn kräftig zu walken und zu kneten an, als ob er ein großes Brot aus ihm machen wollte. Auch sog er ihm den Atem.
Endlich schlug das Büblein die Augen wieder auf und schaute sich schlaftrunken ringsum. Und als es nun nach einer Weile völlig bei sich war, begann es seinem Bauer zu berichten, wie es ihm mit der Wasserjungfer ergangen war.
Also sie packte mich, erzählte er, zog mich ins Wasser und schloss mich so fest in ihre Arme, dass ich den Atem und den Sinn verlor. Wie in einem brausenden Wasserwirbel nahm’s mich in eine unendliche Tiefe. Aber auf einmal wurde es heiter um mich, und ich befand mich in einer wunderbaren Gegend. Und wie ich die Augen recht auftat, sah ich vor mir eine großmächtige Stadt, aus der uns eine eigene Sonne entgegenschien. Als ich jedoch näher kam, verging die Sonne, und es ward daraus ein gewaltiges goldenes Tor, dessen Glanz mich schier blendete. Eben tat sich’s weit auf und eine wunderschöne Jungfrau trat heraus.
Jetzt öffnete die Jungfrau, die mich umschlungen hielt, ihre Arme, um jener, die im goldenen Tore stand, entgegenzueilen. Im selben Augenblick packte mich der Wasserwirbel wieder, riss mich also mit sich empor, das alles um mich verging. Weiter weiß ich nichts mehr.
Mit Staunen hatte der Bauer seinem Hirtenknaben zugehört, dann blickte er mit scheuen Augen in den Weiher. Es wollte ihm vorkommen, er sehe in seiner Tiefe etwas wie ein goldenes Tor glänzen. Der Knabe aber rief seine Herde und fuhr mit ihr still nach Hause. Es heißt, er sei darnach noch oft an den Weiher gegangen, den man von da an „das guldin Tor“ nannte, aber die schöne Jungfrau erschien ihm niemals wieder.
Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.