Ob dem Dorfe Wengen, wo heute das Steintrümmerfeld von Bossen ist, da war einst eine blumige Alp. Sie wurde besorgt von einem helläugigen, rotbackigen, jungen Sennen. Herbst für Herbst waren die Bauern über ihn des Lobes voll; kaum sah man je einen geblähten Käse von Bossen. Der ledige Älpler war ein stiller, gerader und zurückgezogener Bursche; selten ging er ins Wirtshaus. Kam es einmal an einem Festtage vor, so trank er wohl zur Kurzweil einen Schoppen Wein, aber niemals zwei. Wenn am Kiltsamstag die andern Burschen dem Schnaps nachliefen, stellte er sich auf die Seite, entging so den oft wüsten Schlägereien, musste nicht vor den Chorrichter nach Gsteig, und vor seiner Schwelle stand nie ein Anschicksmann. (Vermittlerbote) Bei allen Mädchen von Wengen war er wohl gelitten aber eine, die tat ihm ganz besonders schön; sie war ein schwarzhaariger Wuschel. Die kleinen Stücklein Holz und die jungen Weiber halten sich ja niemals lange still, die dunkle Rätscha (Klatschbase) aber, die überschritt am gleichen Tag mehr als ein halbes Dutzend fremde Schwellen.
Dem Hirt auf Bossen, dem sagten die Jungfern nichts; er wollte nicht an ihre Gnade kommen. Aber der Wuschel wusste ihn überall zu vernehmen und strich ihm nach auf Weg und Steg. Obwohl sie mit ihrem nimmermüden Mundwerk öfters über ihn herfiel, gab er ihr kein ungerades Wort. Sobald sie dann merkte, dass er ihr nicht Ohren schenken wollte, da war sie kein gutmeinendes Weibervolk mehr; sie verlästerte und stampfte ihn in Grund und Boden hinunter, liess keinen guten Faden an ihm. Der Bursche litt sich aufs Blut, liess die erfinderische Verleumdung über sich ergehen und vergass all das Leid, als er wieder oben im blumigen Bossen am Alpen war.
An einem verworfenen Tag stieg die Schwarzhaarige hinauf nach Hohfluh oberhalb der Alp. Hier brachte sie einen losen Felsblock ins Rollen, von dem sie glaubte, er stürze schnurgerade auf die Hütte. Aber — o weh! — sie wusste nicht, dass selten ein Block allein hangab rollt, sondern im ersten Aufschlag ein Dutzend, im fünften oder sechsten Hunderte weckt zum verheerenden, polternden Weg in die Tiefe. Als der krachende Steinschlag niederging, da löste sich auch der Teil der Hohfluh, auf dem das falsche Weib stand, und alles — ganz Bossen — Wald wie Weid gingen unter in Steinstaub und donnerndem Felskrachen.
Tief unter gewaltigen Quadern liegen nun Mensch und Tier und Hütte. Das Weib, das hört man laut schreien unter den Blöcken, jedesmal, wenn aus irgendeinem Grunde sich ein Stein löst oben an Hohfluh.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.