Der Schlossgrün bei Ober-Gösgen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Gösgen ist ein Solothurner Dorf am linken Aarufer, eine Stunde oberhalb Aarau. Am Ende des Unter Dorfes steht noch ein hoher Turm mit steiler Ringmauer vom Schlosse des Ritters von Falkenstein; am obern Dorf liegt in einem Wäldchen hart an der Aare die Ruine des Raubschlosses Hagnau. Eine kleine Tanne hat auf der Spitze dieses Schlossturmes Wurzel gefasst; und gerade bei diesem Bäumchen lässt sich, so oft das Wetter sich ändert, die Gestalt des verrufenen Schlossherrn erblicken. Dann kommt er des Nachts an den Strand hinab, schreitet hier funkensprühend auf und ab, ruft über das Wasser hinüber und trotz des Rauschens, mit dem hier der Strom über Klippen und Kiesbänke weggeht, hört man die helle Stimme genau in dem jenseits liegenden Steckhof, einer Einöde, die ihrer Namen gleichfalls von der Burg Hagnau erhalten hat. Jedermann in der Umgegend und auf beiden Ufern des Flusses, sowohl im Dorfe Däniken,- wie im jenseitigen Obergösgen, weiss etwas von diesem Schlossgeiste zu erzählen, und gleichmässig nennt man ihn den Schlossgrün. Auch spricht man noch überall von dem wunderbaren Verschwinden eines Burschen aus dem dortigen Steckhofe, der sich unlängst einmal mit diesem Schlossgrün eingelassen hat. Nachfolgendes haben wir uns von diesem Burschen selbst sagen lassen. Da er eine verschlossene, menschenscheue Natur ist, dessen Wort durchaus nicht von freien Stücken erfolgt, so liegt mindestens die Annahme fern, als habe er mit seinen Angaben auf die Leichtgläubigkeit seines Zuhörers spekulieren wollen. 

Im Spätherbst 1856 weckte mich einmal um Mitternacht ein plötzlicher Hülferuf aus dem Schlafe. Als ich den Fensterschieber öffnete, um zu horchen, kam die Stimme hell herüber aus dem Hagnauer Hölzchen, das keine hundert Schritt von unfern drei Häusern und der Strasse abliegt, Wind und Regen schlug mir zugleich ins Gesicht, aber es dauerte mich der Arme, der sich bei solchem Unwetter und unserm Hofe so nahe verirrt haben sollte; so verliess ich ohne Zögern das liebe Bett und begab mich in das Wäldchen hinein. Aber o Himmel, welche Schreckensgestalt stand hier vor mir! da ist ein baumhoher Mann, der Länge nach in einem weiten Mantel steckend, und wenn man emporblickt nach seinem Kopf, so rollen in einem schwarzen Gesichte zwei mächtig grosse Feueraugen herum. Alls allen Kräften versuche ich Reissaus zu nehmen, aber schon ist es mir unmöglich. Denn jetzt schreitet der Schwarze vorwärts und nimmt mich mit in seiner Bahn. Hinterdrein muss ich seinen Tritt nachtreten durch Dick und Dünn, über Stock und Stein, durch gebautes und ungebautes Land. In einem weiten Bogen wanderte er über unsere ganze Feldbreite. Als wir gegen das Dorf hinkamen und durchs Dunkel her die ersten Häuser wahrnahmen, versuchte ich's mit aller Macht, unter eines der Dächer hinzuspringen. Aber vergebens; schon gehts weiter fort auf die Eicher-Almende, dann durch die Waldstrecke Lehen, fern über unsern Dorfbann hinaus, dann gar hinüber in die Waldungen des Dorfes Köllikon. Willenlos wurde ich so hinweg geschleppt aus dem Aartale über die Bergwaldungen hinüber in das jenseitige Tal. Von oben goss der Regen, unten schwollen die Bäche an, ich musste sie der Reihe nach durchwaten, ich troff von Nässe, Hände und Füsse bluteten bereits, zerrissen von Dornen und pfadlosen Klippen. Wortlos schritt mein Vormann einher, ich hinterdrein in der dichten Finsternis seiner Gestalt. Jetzt nahten wir einem Bauernhause, das hart am Saum des Köllikoner Waldes lag; in dieses hinein fuhr der Schreckliche unter gewitterhaftem Knallen und Prasseln. Ich weiss nicht zu sagen, wie mir war. Aber als ich wieder zu Sinnen kam, fand ich mich verkrochen im Heu eines Schuppens, abseits von jenem Hause. Bis zum zweiten Tage schon hatte ich hier schlafend gelegen, jetzt erweckte mich ein quälender Hunger. Ich suchte das nächste Haus auf und bat die Leute um ein Stück Brot. Aber mit Schrecken warfen sie mir ein Stück heraus und schlossen eilig das Fenster. Aus ihrer Miene und Rede erriet ich erst mein eignes Aussehen: Alle Kleidung herabgerissen, Arm und Bein blutrünstig, die Augen rot vor Fieberhitze, und ein Kopf, zur Grösse eines Kornmetzen aufgeschwollen, so war meine Erscheinung. Als ich heimkam, wollte man mich kaum wieder erkennen. Niemand begriff mein langes Ausbleiben. Man brachte mich zu Bette und es dauerte manche Woche, ehe ich es wieder verlassen konnte. 

Der Schlossgrün hat auf dem Fusswege, der im Walde an seiner Burg vorübergeht, seine eigne Bahn und macht sie den Leuten streitig, wenn er hier mit seinen drei weissen Hündchen jagen will. Dann aber ist er, wie sein Name es besagt, vollständig grün gekleidet. Ihm gehört hier auch die Grundruhr an, die in dem Strandrechte besteht, alle vom Strom gelandeten Gegenstände in Besitz nehmen zu dürfen. Daher verwehrte er einst den Flösserknaben, die im Schachen der Aare bei Obergösgen wohnen und zum Schlosse hinüberfuhren, um das Treibholz aus dem Wasser, herauszufischen, fortwährend die Landung. Ihr Vater, der alte Flösser, sah dem von drüben aus lange zu, endlich riss ihm die Geduld und er brauchte sein für solche Fälle ausreichendes Geheimmittel. Er beehrte nämlich den Burggeist mit einer sehr unanständig lautenden Einladung, und veranschaulichte sie, um ganz verstanden zu sein, damit, dass er die Hosen fallen liess. Nun konnten die Knaben landen, der Alte jedoch trug einen geschwollenen Kopf davon.

Quelle: Ernst L. Rochholz, Naturmythen, Neue Schweizer Sagen, Band 3.1, Leipzig 1962

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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