Auf einem der Wynigenberge im untern Emmental stand vor alten Zeiten die Burg Grimmenstein. Der letzte Ritter von Grimmenstein war ein leidenschaftlicher Jäger. Selbst an Festtagen konnte er das Weidwerk nicht lassen.
An einem Sonntag, als er sich wieder zur Jagd rüstete, trat seine Gattin vor ihn hin und bat ihn inständig, daheim zu bleiben.
«Siehst du nicht, wie der Sturm tobt und wütet. Ich fürchte, die Geister des Waldes seien wach und möchten dir Unheil zufügen.» Für dergleichen Vorstellungen hatte der Ritter bloss ein mitleidiges Lächeln übrig. «Die vergangene Nacht», so fuhr sie fort, «quälte mich ein furchtbarer Traum. Ich sah dich einen prächtigen Hirsch mit drei Jungen jagen. Wie du auf ihn anlegtest, tötetest du mich und deine drei Söhne.» Auch diese Worte vermochten den Ritter nicht von dem Weidwerk abzuhalten. «Ehe ich heute raste, gehe ich in den Tod! » Mit diesen Worten ritt er von dannen, begleitet von den jubelnden Jägern und Knappen und dem freudigen Gebell der Jagdhunde.
Der Vormittag verstrich nicht ohne reiche Beute, aber noch immer fehlte der von ihm so sehr gewünschte Hirsch.
Am Nachmittag verzog sich die Jagd auf eine lichte Waldwiese mit saftigem Gras und klarem Wasser. Eine prächtige Hirschkuh weidete mit drei Jungen darauf. Sogleich griffen die jungen Hunde an. Die Hirsche aber flohen nicht. Schirmend stellte sich die Kuh vor die Kleinen und wehrte, furchtbar stöhnend, die wilde Meute ab. In wenigen Augenblicken sanken die Jungen, von wohlgezielten Pfeilen getroffen, blutend ins grüne Gras. Länger hielt die Hirschkuh stand, aber auch sie fiel durch das Geschoss des hartherzigen Ritters.
Da stieg ganz unerwartet der Berg- und Waldgeist, der Beschützer des unschuldigen Wildes, aus der Erde hervor. Hohnlachend rief er : «Nur gemach, die Hirschlein sind schon gerächt!» Damit verschwand er und Hirschkuh und Junge mit ihm.
Vor Schrecken starr standen die Jäger, bis sich endlich der Herr von Grimmenstein ermannte und in seine Burg zurück ritt. Zögernd betrat er das Gemach seiner Gattin. An der Seite ihrer drei Söhne lag sie da, tot, von seinen eigenen Pfeilen durchbohrt.
In stummem Schmerz küsste er die teuren Leichen. Dann stiess er sich selbst das Schwert in die Brust und sühnte so die Schuld seines Jagdfrevels.
Zerfallen liegt Grimmenstein, die Feste des wilden Jägers. Bricht aber Krieg oder Pest ins Land, dann steigt der Ritter aus seinem Grabe. Dreimal stösst er ins Horn, fährt dann brausend und tobend durch die Luft und ruft die Knappen und die heulenden Hunde mit weithin schallendem Hufschlag. Eine schöne Hirschkuh mit drei Jungen eilt flüchtig vor ihm her. Angstvoll wirft sich der Bauer zur Erde, wenn er die wilde Jagd kommen hört.
Emmentaler Sagen, Hermann Wahlen, 1962 Gute Schriften Bern
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.