Von allen Vögten, die im Namen des Bischofs von Cur auf dem Schlosse Aspermont oberhalb der Mulinära wohnten, war es der letzte, welcher an Grausamkeiten seine Vorgänger überbot, weshalb die Untertanen darauf trachteten, ihn gut- oder böswillig los zu werden. Im Schlosse diente ein Mädchen, das, aus der Gegend gebürtig, Vielen bekannt war und welches die Bedrückten zum Werkzeuge ihres Vorhabens auserkoren.
Lange Zeit sträubte sich das Mädchen, in den Plan der Verschwörung einzugehen; aber unter den Burschen war Einer ihr Geliebter, dessen Vater vom Vogte grausam behandelt worden war. Ihm zu Liebe und auch deshalb, selbst aus dem Schlosse weg zu kommen, willigte sie endlich ein.
Sie sollte nun, der Verabredung gemäss, wie gewohnt, ihren Herrn veranlassen, auf der Zinne der Burg am Nachmittage der Mittagsruhe zu pflegen; sei er dann eingeschlafen, solle sie ein weisses Tüchlein über seine Stirne legen.
Das Mädchen tat also; der arglose Burgvogt machte sein gewohntes Schläfchen, sein Haupt auf den Schoss des Mädchens gelegt. Als er, von der Sonnenwärme ermüdet, eingeschlafen war, verliess das Mädchen ihren Platz, ging ins Schloss, holte ein Kissen, legte dasselbe dem Vogt unters Haupt und ein weisses Tüchlein aufs Gesicht.
Alsbald zeigte sich auf einem Felsenboden der Burg gegenüber eine männliche Gestalt, es war der Geliebte des Mädchens, die Armbrust in der Hand. Er spannte den Bogen, zielte auf das weisse Tüchlein, und - der Pfeil durchdrang das Haupt des Tyrannen.
Die Burg wurde mit leichter Mühe genommen, die wenigen Knechte entlassen, oder verjagt und das Turmgebäude angezündet. Das Mädchen, in Freiheit gesetzt, folgte ihrem Befreier zum Altare. Von dieser Zeit an trägt das Bödelein, wo der Schütze gestanden, den Namen »Schützenbödeli«.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.