Wie die starken, wilden Mädchen nicht ungerne die Gesellschaft schöner, junger Sennen in den Alpen aufsuchten und ihre Herden pflegten, sehen wir aus folgender Sage: Ein Jüngling von Saas fütterte eines Winters im Berge oberhalb des Dorfes seines Vaters Viehhabe. Der Sohn liess lange Zeit nichts von sich hören, wesshalb der Vater, um nachzusehen, ob vielleicht ihm Etwas zugestossen und wie es mit dem Futtervorrat stehe, sich aufmachte und nach der Alp ging. Er fand den Sohn in der Sennerei beschäftigt und war erstaunt über den reichen Vorrat an Milch, Butter und Käse; auch gewahrte er das schöne Aussehen des Viehes und zudem war der Futtervorrat weit grösser, als er ihn erwartet hatte. Sein Blick fragte den Sohn um die Lösung des Rätsels. »Sieh\', Vater, das hat meine Madrisa getan: die hat mir geholfen die Habe füttern, sie hat Wurzeln und Kräuter gesammelt und die unter das Futter gestreut; darum ist das Vieh so schön der Molken so viel.« Dies sagend, deutete er schweigend auf sein in der Ecke aufgerichtetes Lager, auf dem ein schönes, wildes Mädchen schlief dessen lange, goldgelbe Haarflechten über die Lade heraushingen. - Ob dem Gespräche erwachte das Mädchen, erhob sich vom Lager und sprach zum Vater: »Ach, dass du kommen musstest! wäre ich unerkannt geblieben, dein Sohn und ich hätten das Vieh hier gefüttert bis zum Frühlinge, da es auf die Weide geht, so aber kann ich da nicht länger bleiben; ungerne gehe ich zurück in Wald und Felsen, aber nun muss es sein; leb\' wohl, mein Job.« - Und leichten Schrittes schwebte sie über den Schnee, den Felsenhörnern zu, die ihren Namen tragen, den der junge Senne vergeblich rief, als er im nächsten Sommer die Herden in die Berge trieb.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.