Nesa von Brunberg war von dem Wege einfacher und reiner Sitten abgewichen. Sie zog es vor, den Lockungen des reichen Ritters von Rätenberg Gehör zu geben, ihrem Elternhause und den Ermahnungen und Tränen ihrer Mutter den Rücken zu kehren und nach Rätenberg zu ziehen, um in Leichtsinn und Schande ihr Leben hinzubringen. Der Ritter von Rätenberg hatte seine Gattin von der Burg vertrieben; nun fesselte er Nesa an sich durch reiche Geschenke, durch Vergnügungen, und Nesa liess sich vom Glanze blenden. Sie scheute sich nicht, auf schön geschirrtem Pferde und in prunkendem Kleide in der um Brunberg liegenden Fetzwaldung zu jagen, bei den Fenstern ihrer elterlichen Wohnung vorbei zu sprengen und dabei die Hörner erklingen zu lassen. Das war den Gefühlen der Mutter zu viel; der Schmerz um die Verirrungen ihrer Tochter warf sie aufs Sterbebett. Ihre nahe Todesstunde fühlend, wollte die Mutter einen letzten Versuch zur Besserung ihrer Tochter machen. Seit Jahren hatte aller Verkehr zwischen Mutter und Tochter aufgehört; jetzt aber sandte sie einen Diener mit der Aufforderung an die Tochter, zur letzten Lebensstunde der Mutter zu kommen und ihr letztes Wort zu hören. Als der Diener aus dem Hause trat, hörte er den Lärm der Jagd im Fetzwald, und kaum war er in das Dunkel des Forstes eingetreten, so rauschte ein Hirsch an ihm vorbei.
Bald folgte ein Rudel Hunde und hinter diesen der Ritter von Rätenberg und Nesa zu Pferd. "Um Gottes willen, Herrin, haltet!" rief der Diener. "Eure Mutter liegt im Sterben und will Euch noch einmal sehen, kommet und zögert auch nicht einen Augenblick!" Nesa hatte das Pferd angehalten und blickte unschlüssig den Ritter an. "Pah!" rief dieser; "alte Weiber wollen alle Tage sterben und sterben doch nie. Stirbt sie, so wird sie den Himmel wohl finden; wir aber verlieren den Hirsch. vorwärts, vorwärts!" Er spornte sein Ross, gab auch dem andern einen Hieb, und vorwärts brauste die Jagd. Wie der Diener diesen Bericht nach Brunberg brachte, stieg die furchtbarste Erbitterung im Herzen des Vaters und der Brüder auf; die Mutter liess eine Träne aus ihrem Auge fallen, faltete die Hände und sprach ein leises Gebet. Alle fühlten, dass hier etwas geschah, was ihnen unmöglich gewesen wäre: die Mutter betete für die verlorene Tochter. Auf einmal aber zuckten die Lippen der Flehenden; der Engel des Friedens hatte ihr Gebet und ihre Seele in Empfang genommen.
Noch einige Jahre ging es so weiter; dann zog auf dem Rätenberg die Armut ein, und endlich musste der Ritter seine Burg verkaufen. Er schloss sich als gemeiner Krieger einem Zuge nach Jerusalem an, und niemand hat von ihm weiter etwas gehört. Nesa aber wurde eine fahrende Sängerin. Die Lieder, die ihr früher beim üppigen Mahl auf Rätenberg vorgetragen worden waren, sang sie jetzt selbst in ärmlicher Kleidung in den Höfen und Hallen anderer Burgen und selbst auf Märkten, um so den kümmerlichen Lebensunterhalt zu gewinnen. Da fasste sie plötzlich eine der verheerenden Krankheiten, die in jenen Zeiten so häufig und so mörderisch waren, und mit der Krankheit fasste sie zugleich eine mächtige Sehnsucht, das Haus ihrer Väter noch einmal zu sehen. Den Tod im Herzen, schleppte sie sich der Heimat zu, kam gerade zu jener Stelle, wo am Eingang der Setzwaldung der Weg von Rickenbach nach Kirchberg* sich teilt, aber nicht weiter. Wie ein Gespenst stieg hier eine strafende Erinnerung aus dem Boden; dies war die Stelle, wo der Diener ihrer Mutter sie angerufen und an das Sterbelager gerufen hatte. Unter der ersten Tanne rechts vom Fussweg nach Kirchberg sank Nesa zusammen und gab den Geist auf. Aber diesem Geiste versagte eine höhere Macht den Weg in die jenseitige Welt. Die Träne einer sterbenden Mutter verschloss ihr den Himmel. So blieb die Seele gebannt an den Ort, wo sie aus dem Körper getreten war. Sobald die Dämmerung in die Nacht überging, sah der Vorübergehende ein weibliches Wesen von unheimlichem Aussehen unter der Tanne sitzen. Alter oder Sünde und Not hatten tiefe Furchen in ihr Antlitz gegraben. Diese Gestalt war die hingeschiedene Nesa. Ihre verirrte Seele behielt aber die bösen Neigungen bei. Wenn immer ein des Weges unkundiger Wanderer das unter der Tanne sitzende Weibchen um den rechten Pfad nach Wolfikon und Kirchberg fragte, so schoss ein blitzartiges Leuchten aus ihren Augen, und sie wies ihm einen. Wehe ihm, wenn er der Weisung folgte! Stundenlang irrte er in den Waldungen umher und holte sich bei stürmischer Witterung im Sommer Krankheiten, im Winter den Tod.
Die nähern Anwohner waren daher bald über die eigentliche Natur des weiblichen Wesens unter der Tanne aufgeklärt; sie warnten ihre Kinder und Hausgenossen, in der Dunkelheit bei der gespenstischen Stelle vorbeizukommen, und wenn das Fetzfräulein unter der Tanne sitze, sollen sie ja keine Fragen an dasselbe richten, sondern fromm das Kreuz schlagen und rasch vorbeieilen.
Wohl errichtete eine fromme Hand das Bildnis der Gottesmutter an der Tanne, vergebens! Noch Jahrhunderte lang übte das Fetzfräulein sein unheilvolles Wesen. Noch jetzt leben Leute, die seine Erscheinung wahrgenommen haben wollen.
Da geschah es, dass an einem stürmischen Winterabend ein Mädchen von 18 Jahren den Fussweg hereilte. Angst malte sich in seinen Zügen. Da stand es am Eingang des Fetzwaldes stille; es wusste nicht, welchen Weg es wählen sollte. Es blickte um sich, und siehe da, unter der ersten Tanne sass ein altes Weibchen, das ihm zunickte.
"Um Gottes willen", rief das Mädchen, "wo geht man nach Wolfikon?" Das Weibchen blickte das Mädchen eine Zeitlang an. Gerade in diesem Alter war Nesa gewesen, als sie den Pfad der Abwege betreten hatte. Es schien, als wollte sich dem Geiste Nesas ihr eigenes früheres Bild vor Augen stellen. Endlich aber zuckte das unheimliche Feuer aus dem Auge des Weibchens; stumm erhob es den Arm und wies den Pfad — es war der falsche. Schon wollte das Mädchen dahin und damit in sein Verderben stürzen. Da blickte es nochmals das Weibchen an und sah das Hohnlächeln aus dessen Lippen. "Um Gottes Barmherzigkeit willen", rief das Mädchen, "wenn Ihr selbst das Fetzfräulein seid, erbarmt Euch und zeigt mir den rechten Weg! Die Mutter liegt auf dem Sterbebette und möchte mir noch den letzten Segen geben! O, bringt mich nicht um mein Heil, ich habe sonst nichts; bringt die Mutter nicht um den letzten Anblick der Tochter! Mensch oder Geist! Gott wird es Euch vergelten!" Das Weibchen blieb längere Zeit stumm; endlich brach ein Lichtstrahl aus seinem Auge, aber ganz ein anderer als früher; es war ein mildes, vertrauenerweckendes Licht. Sie erhob den Arm und zeigte dem flehenden Mädchen einen andern, den rechten Pfad, und das Antlitz wurde dabei so mild, dass das Mädchen ohne den mindesten Zweifel forteilte. Nun war aber auch die Stunde gekommen, welche Nesas Seele gereinigt und befreit hatte. In diesem Mitleid mit dem Geschick eines Mädchens, das zur sterbenden Mutter eilte, hatte sie ihr eigenes Verbrechen gesühnt.
Wohl besteht zur Stunde noch das Marienbild an einer Tanne beim Eingange in den Fetzwald, wohl eilen jetzt noch die Wanderer scheu an dieser Tanne vorbei; dennoch wurde das Fetzfräulein von keinem Menschenauge mehr erblickt.
*Zirka eine Viertelstunde von Rickenbach, an der St. Gallisch-Thurgauischen Grenze.
nach der Chronik von C.G.J. Sailer von Wil
Quelle: A. Oberholzer, Thurgauer Sagen, Frauenfeld 1912
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch