Inmitten eines fruchtbaren Landes war ein hübsches Dörfchen, dessen Bürgermeister ein reicher Mann war, denn er hatte viel Feld und Vieh. Hier lebte auch ein Mann, der Martino hiess und der so schlau war, dass alle ihn „Martino den Auserlesenen" nannten. Er besass ein wenig Feld und sechs Kühe, die er auf seinen Wiesen weiden liess. Aber manchmal zerbrachen sie die Einfriedigung und entschlüpften, um Gras auf den benachbarten Wiesen des Bürgermeisters zu fressen. Darüber war dieser sehr zornig und beklagte sich fortwährend über den Schaden, den das Vieh Martinos ihm tat. Martino wurde die ewigen Klagen müde und beschloss, seine sechs Kühe zu schlachten, zur grossen Freude des Bürgermeisters. Das Fleisch verkaufte er an die Metzger des Orts, welche davon Salamiwurst machten. Aber niemand wollte die Häute der sechs Kühe kaufen. Er wusste nicht, was er damit machen sollte und erbat deshalb den Rat des Bürgermeisters. Dieser riet ihm in die Welt zu gehen, ob nicht draussen jemand sie kaufen würde.
Und so ging Martino fort. Er reiste und reiste und befand sich in einem Wald, als es schon Nacht wurde. Da fürchtete er sich ein wenig, denn er wusste nicht, was er so allein mit seinen Häuten machen sollte. Da kletterte er auf einen hohen Baum und nahm auch seine sechs Häute mit, die er zu einem Bündel gebunden hatte.
Nach kurzer Zeit hörte er in der Ferne Stimmen, die sich langsam näherten. Er sah etwas wie einen grossen dunklen Fleck, der zwischen den Bäumen nach dem Ort zukroch, wo er sich befand. Nun konnte er besser sehen: Es waren sieben Diebe, die gerade unter seinem Baume stehen blieben. Sie legten mehrere schwere Säcke auf den Boden und zündeten ein grosses Feuer an.
Unser Martino zitterte vor Angst und hatte grosse Mühe sein Bündel Häute festzuhalten, welches ihm herunterfallen wollte. Kurze Zeit widerstand er, aber dann konnte er es nicht mehr halten und er liess es los. Es fiel von Ast zu Ast, knickte Zweige und verursachte einen grossen Lärm.
Die sieben Diebe sahen ein haariges Ding herunterkommen, das ein fliegender Bär zu sein schien. Da flohen sie und liessen all ihr Gepäck im Stich, zur grossen Freude des Martino, wie man sich vorstellen kann.
Kaum war es Tag geworden, als unser Held vom Baume stieg. Er schaute in die Säcke und fand sie voll von schönen Dukaten. Sehr zufrieden lud er sie sich auf die Schulter und trug sie nach Hause, wo seine Frau ihm ein grosses Fest bereitete. Aber die Schwierigkeit war, die vielen Dukaten zu zählen. Da schickte Martino seine Frau zum Bürgermeister das Mass zu leihen, mit dem er sonst den Reis und das Korn mass. Und mit diesem mass er die Dukaten. Ehe er das Mass zurückgab, klebte er auf den Grund ein wenig Pech und auf dieses einen Dukaten.
Als der Bürgermeister den schönen Dukaten sah, begriff er, dass Martino Dukaten gemessen hatte und er ging zu ihm, um Näheres zu erfahren. Martino sagte ihm, es sei wahr, er habe Dukaten im Überfluss und er habe sie bekommen beim Verkauf der Häute.
Der Bürgermeister, der sehr geldgierig war, liess sofort seine Kühe schlachten und schickte die Knechte in die Welt, die Häute zu verkaufen. Aber niemand wollte sie kaufen und alle kehrten zurück, die Häute auf den Schultern.
Da merkte der Bürgermeister, dass Martino ihn hereingelegt hatte, und er lief zu ihm in grosser Wut, aber er fand ihn nicht im Hause. Die Frau sagte, ihr Mann sei in den Wald gegangen. Sie könne ihn aber gleich zurückrufen.
Unter dem Tisch sass ein Hase mit festgebundenen Beinen. An seinen Hals befestigte die Frau ein Briefchen. Sie löste die Fesseln und der Hase lief nach einigem unsicherem Zögern gegen den Wald.
Nach einer Weile kehrte Martino zurück mit dem Hasen unter dem Arm. Der Bürgermeister verwunderte sich und dachte nicht mehr an seine Kühe. Er wollte den gezähmten Hasen kaufen und er merkte nicht, dass es gar nicht derselbe Hase war. Er wusste nicht, dass Martino in den Wald gegangen war mit dem einen Hasen unter dem Arm, während er den anderen seiner Frau dagelassen hatte, die ihn zu einer bestimmten Zeit freilassen sollte. All dies wusste er nicht, aber er wollte das schüchterne Tierchen kaufen und Martino liess es ihm zu erhöhtem Preis.
Den Tag danach musste der Bürgermeister ins Feld gehen. Er sagte seiner Frau, wenn das Essen fertig sei, brauche sie nur den Hasen loszulassen, der werde zu ihm laufen und es ihm melden. Pünktlich um Mittag wurde der Hase fortgeschickt und der lief froh davon.
Der Bürgermeister wartete unterdessen und hatte Hunger, aber kein Hase erschien. Seine Frau ihrerseits verwunderte sich, dass ihr Mann nicht kam, trotz der Einladung des Tieres. Es wurde immer später. Da kehrte der Bürgermeister zurück, um seine Frau auszuschimpfen. Aber er kam nicht dazu, denn seine Frau schimpfte zuerst auf ihn, weil er so spät kam und sie hatte warten müssen. Da merkte er, dass er sich schon wieder hatte beschwindeln lassen von diesem Schlaukopf Martino und er lief in grösstem Zorn zu ihm. Martino hatte gerade Holzkohlen gebrannt in einem Winkel der Küche, so dass der Steinboden an dieser Stelle heiss wie ein Backofen war. Kaum sah er in der Entfernung den Bürgermeister auf sein Haus zukommen, als er Kessel und Töpfe auf den erhitzten Boden stellte mit wenig Wasser drinnen. Dann nahm er eine Peitsche und begann damit tüchtig zu peitschen. Als der Bürgermeister ankam, fand er ihn so und glaubte, er habe den Verstand verloren. Aber gleich fingen die Kochtöpfe an zu kochen und gewaltigen Dampf auszustossen. Der Einfaltspinsel von Bürgermeister glaubte, das sei alles das Werk der Peitsche und er wollte sie um jeden Preis haben. Er bekam sie und musste tüchtig dafür bezahlen.
Am Morgen sagte er seiner Frau, er müsse fortgehen, aber sie brauche das Essen nicht mehr auf dem Feuer zu kochen. Sie solle es auf den Boden stellen und er zeigte ihr, wie sie dabei die Peitsche handhaben müsse.
Um zehn Uhr wollte die Frau Kartoffeln kochen und tat sie mit Wasser in einen Topf. Dann legte sie ein Stück Fleisch mit Butter und Zwiebeln in einen anderen, setzte die Töpfe auf den Fussboden und nahm schnell die Peitsche und fing an damit zu knallen. Aber das Wasser kochte nicht und das Fleisch briet nicht. Und sie peitschte und klopfte und fluchte. Mittagszeit kam, der Bürgermeister erschien im Hause und hatte guten Appetit. Aber er fand Kartoffeln und Fleisch roh und seine Frau von Schweiss überströmt.
„Dummkopf!" schrie sie ihn an, „du hast dich wieder beschwindeln lassen!"
Der Arme lief nun zu Martino, um eine Erklärung zu bekommen und ihn für seinen Betrug zu züchtigen. Aber dieser schob alle Schuld auf seine eigene Frau, die ihm übel antwortete und ihn in grossen Zorn versetzte. Da nahm Martino in Gegenwart des bestürzten Bürgermeisters ein grosses Messer und stiess es seiner Frau in die Brust, so dass ein Strom von Blut herausstürzte und die Frau zu Boden sank und ihren letzten Seufzer aushauchte. Als sie tot dalag und sich nicht mehr rührte, nahm Martino eine kleine Handorgel und fing mit grosser Gleichgültigkeit an zu spielen. Und er spielte und spielte. Da bewegte die Frau ein Bein, dann einen Arm, sie öffnete ein Auge, dann das andere. Darauf erhob sie sich wankend und erholte sich nach und nach, bis der erstaunte Bürgermeister sie in vollkommener Gesundheit sah. Armer, leichtgläubiger Mann! Er merkte nicht, dass Martino seiner Frau eine Blase voll Schafsblut an die Brust gebunden hatte und dass der Messerstich nur die Blase getroffen hatte.
Natürlich musste der Bürgermeister die Orgel haben und liess dafür ein schönes Stück Geld in Martinos Händen. Als seine Frau ihn mit einem neuen Kauf kommen sah, wollte sie nicht Frieden geben, so dass der Mann dachte, sie für eine halbe Stunde zu töten, um ein wenig Ruhe zu haben. Er lief in die Küche, nahm ein langes grosses Schlachtmesser und stiess es in die Brust seiner Frau, die umfiel und sofort starb, zum grossen Entsetzen der Angehörigen, die dabei waren. Ruhig war nur der Bürgermeister, der sich bald darauf hinsetzte und anfing Orgel zu spielen, im Vorgeschmack des Erstaunens der anderen, wenn die Hausfrau wieder aufstehen würde. Und er spielte und spielte und drehte den Handgriff. Aber die Frau blieb kalt und steif. Da merkte er, welchen grässlichen Scherz Martino mit ihm getrieben hatte und wollte ihn um jeden Preis töten. Er nahm zwei Carabinieri und einen Sack mit sich und lief zu Martinos Haus. Der war im Begriff, sich etwas Neues auszudenken. Aber die Carabinieri liessen ihm dazu keine Zeit. Sie nahmen ihn gefangen, steckten ihn in den Sack, banden ihn gut zu und auf Befehl des Bürgermeisters trugen sie ihn zur Brücke, um ihn in den Fluss zu werfen. Aber Martino war schwer, es war so heiss und sie hatten solchen Durst. Da sahen sie ein Wirtshaus an der Strasse stehen. Sie legten den Sack auf die Erde und gingen hinein, um ein Glas Wein zu trinken. Da machte Martino mit den Zähnen ein kleines Loch in den Sack und schaute hinaus. Nicht weit davon sah er einen Hirten mit seinen Schafen ihm entgegenkommen und als der nahe genug war, begann er zu weinen und zu klagen: „Oh ich Armer, ich Armer! Sie wollen mich zwingen, die Königstochter zu heiraten und ich will doch nicht! Oh ich Armer, ich Armer!"
Der Hirt antwortete: „Wie, du Dummkopf, du willst nicht die Königstochter heiraten?"
„Nein, nein, ich will nicht."
„Dann komm doch heraus, ich geh statt deiner in den Sack und heirate die Königstochter." Und damit half er ihm heraus.
Sehr froh steckte Martino den armen Hirten in den Sack und begab sich mit der Schafherde nach Hause.
Bald darauf kamen die Carabinieri wieder heraus, nahmen den Sack auf die Schulter, gingen zur Brücke und hinunter an den Fluss. Ein Schrei, ein Sturz, ein Gurgeln, dann nichts mehr.
Aber zur grossen Freude seiner Frau und zum Erstaunen des Bürgermeisters kam Martino im Dorf an mit seiner schönen Schafherde.
„Wie, du bist hier und nicht im Fluss? Wo hast du denn die Schafe her?" fragte der Bürgermeister.
Und Martino antwortete: „Ich bin im Fluss gewesen und diese Schafe sind die vielen weissen Schaumkronen, die man auf der Oberfläche schwimmen sieht."
Der Bürgermeister lief zur Brücke und sah wirklich eine Masse weisser Schaumkronen, glaubte, es seien die Schafe, von denen Martino gesprochen hatte. Er liess sich in einen Sack binden, den er mitgebracht hatte und ins Wasser werfen, denn auch er wollte Schafe haben. Diese Schafe kamen und zergingen auf dem Fluss, aber der arme dumme Bürgermeister blieb auf dem Grund und machte die Fische fett.
Martino wurde Bürgermeister an seiner Statt und erfreute sich in Frieden am Geld und an den Ländern seines Vorgängers.
Quelle: L. Clerici, Helene Christaller (Übers.), Märchen vom Lago Maggiore.
Nach mündlicher Überlieferung gesammelt von Luigi Clerici, Basel o. J.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch; typografisch leicht angepasst.