In einem Bergdorfe des deutschen Wallis, so wird erzählt, wurde die Ziegenherde für den Sommer einem jungen, aber ziemlich geweckten Hirtenbuben anvertraut. — Es ist vielerorts Mode, alle Ziegen eines Dorfes in eine Herde (Hut) zu sammeln und gemeinschaftlich auf die Weide zu treiben. Nachts werden diese Haustiere entweder von jedem Eigentümer selbst eingeheimst, oder, was nicht selten, in einer gemeinschaftlichen Herberge — Gemeingeissstall — übernachtet. Ist das letztere der Fall, so wird über das Geschäft ein eigener Amtsmann gestellt — so lange wenigstens der Staat dem Bürger freie Hand lässt und sich nicht auch da einmischt. — Dieser Amtsmann hat die Polizei über den Geissstall und der Geisshirt steht unter seiner Ordre.
Im Laufe des Sommers begann es, erst bei den Weibern, dann bei den Männern und zuletzt im ganzen Dorfe herum zu murmeln, der Geissbub sauge die Geiss! — Die Hausmütter wollten nämlich am Abend zu wenig Milch von den Ziegen bekommen, und alle glaubten am Hirten die Wangen röter zu finden als sonst bei diesem Amte der Fall. — Kurz, der Lärm wurde bald so arg, dass sich der Gewaltshaber gezwungen fand, den Gemeinderat einzuberufen, um Ordnung zu machen.
Die Wichtigkeit des Geschäftes fühlend eröffnete derselbe die Verhandlung mit hohem Ernst. «Meine Herren!» sprach er, «ihr kennt die inhaltsschwere Frage, die uns heute beschäftigt. Man sagt, unser Geissbub sauge die Geiss. Ich beanspruche eure Weisheit und euren Rat, wie da zu helfen sei.» — Nach einiger Überlegung meinte der Erste, «der Delinquent solle gemahnt werden.» «Wird wenig nützen», glaubte der Zweite, «er muss beaufsichtigt werden.» «Wird schwer halten», stimmte der Dritte, «er soll seines Amtes entsetzt werden.» «Das ist nicht genug», fügte der Vierte zu, «er muss als Dieb bestraft werden.» — Und es folgte eine schwüle Pause — Kleinlaut nahm der Gewaltshaber nochmals das Wort: «Ihr wisst wohl, meine Herren!, die Gesetze erlauben nicht, jemanden zu belästigen oder gar zu strafen für Misstaten, die nicht vom Übeltäter selbst anerkannt sind. Glaubt ihr nun, unser mutmasslicher Delinquent werde bekennen? Wir dürfen ihm vorderhand kein Haar krümmen. Seine Mutter ist ein Weib, welches das halbe Dorf regiert und die andere Hälfte noch froh ist, von ihm ein «gnädiges Urteil» zu erflehen. Wir alle riskieren ernstlich für unsere Ehre und unser Amt.» — Man wusste keinen Rat. — Endlich wurde mit Stimmenmehrheit beschlossen, weil man eben nichts Besseres ersann, den verworrenen Handel dem Geissstallvogt zu überantworten.
Dieser, ein junger rüstiger Gemeinder, fand sich durch den klugen Ratsbeschluss sehr beehrt; er liess gleich den Hirtenbuben vor sein Angesicht treten. «Sieh, mein Junge», begann er mit vornehmer Amtsmiene, «du hast Anlagen, der wichtigste Mann unseres Dorfes zu werden; die Hoffnungen der ganzen Gemeinde ruhen auf dir. Sollte Garibaldi nochmals Lust haben, in Brig Papstbirnen zu kosten, so will ich dich an seinen Kutschenschlag hinführen, damit er dir die Hände auflege und dich segne. Kein anderes Amt kömmt gegenwärtig an Wichtigkeit dem deinigen gleich; die armen Mütter blicken auf dich, um ihre Kinder zu stillen; das Wohl und das Weh der Gemeinde hängt von der treuen Erfüllung deiner Amtspflicht ab. Verstehe das wohl! Du weisst es, wenn den Kühen die Milch nicht fleissig gezogen wird, so leiden sie Schaden und verlieren die Milch. So ist's auch mit den Ziegen, diesen kleinen Kühen der armen Leute. Es ist Pflicht eines guten Geisshirten, fleissig nachzusehen, ob es Ziegen gäbe, die gar zu volle Euter haben, um stets bei Zeiten nachzuhelfen und den guten Tieren Erleichterung zu bringen.»
Und der milchrote Bube wurde noch röter im Gesicht und sagte: «Sei ohne Sorge, ich bin kein Kind mehr. Ich tue das!»
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch