Zur Zeit, als in Naters ein gewisser Biderpost Pfarrer war, lebte dort ein ausgezeichneter Gemsjäger, mit Namen "der grosse Lerjen"; er war ein guter Freund vom Pfarrer, der auch ein grosser Liebhaber der Jagd war. Als Lerjen demselben erzählte, dass er in den schauerlichen Gredetschbergen ein schönes, schneeweisses Gemstier gesehen, dem er aber nicht habe beikommen können, mahnte ihn der Pfarrer, künftig nicht mehr auf die Jagd zu gehen. Einst wo der Pfarrer in Brigisch einen Schwerkranken in der Nacht verwahren musste, traf er auf der Rückreise, noch im Morgendunkel, den grossen Lerjen an. Die Büchse auf der Achsel und vollständig zur Hochjagd ausgerüstet, vom Schweisse triefend, begegnete er ihm so eilig, als wenn er sehr pressierte. «Wohin, wohin Lerjen, so im Sturm?» fragte ihn der Pfarrer. «Nach Gredetsch, das weisse Tier holen — koste es was es will!» gab er zur Antwort. «So, das wird dir doch nicht Ernst sein?» fragte wieder der Pfarrer. «Ernst, Ernst!» erwiderte Lerjen. «Nun denn, so lebe wohl, wir sehen einander nicht mehr!» sagte der Pfarrer, drückte ihm noch herzlich die Hand — und ging seinen Weg vorwärts. Abends kam von den Hirten die Nachricht, ein Jäger sei in den Gredetschbergen erfallen. Er soll sich von dem weissen Tiere in die gefährlichsten Felspfade haben verführen lassen und von dort in den schwindligen Abgrund gestürzt sein. Der unglückliche Lerjen wurde klein zerschmettert gefunden und in einem Leintuche zusammengebunden auf den Kirchhof nach Naters gebracht.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch