Der alte originelle »Felliser Josi» von Brig, ein echtes Temperkind, war bekannt als Geisterseher. Wenn auch nur Halbes wahr sein sollte, was er gesehen und seinen Vertrauten erzählt, so grenzt dies an das Wunderbare. Den grossen Durchzug anno Fünfzehn soll er lange vorhergesehen; ob nun die Gliserschlacht, die ihm ein Geist soll gezeigt haben, auch einstens noch sich erfüllen wird, mag die Zukunft lehren. Unter anderem erzählte mir ein Greis von Naters, ein redlicher alter Walliser, Moriz Eggel, dass ihm derselbe in ganz vertrauter Mitteilung eine seltsame Geistererscheinung offenbart habe. Er wollte ihm weder den Namen des Hauses noch den der Ortschaft nennen und wenn ich auf den Namen der Familie deutete, so bat er mich, ich solle meine Vermutungen nicht aussprechen und ihn über so etwas nicht ausforschen, aber denken könne ich darüber was ich wolle. Ich möchte das Ganze für eine Erfindung erklären, wenn es nicht ein so alter Mann erzählte, der mir noch andere ähnliche Sonderbarkeiten vom Felliser Josi mitteilte. Obwohl die wunderbaren Märchen und Sagen vielleicht kein empfängliches Publikum bei uns finden, so wollte ich doch diese seltsame Erscheinung aufzeichnen — sie heisst: «Das Gastmahl um Mitternacht.»
Es war am Vorabend der Hl. Dreikönige, fing der Erzähler an, als es vor meinen Fenstern rief, es mochte etwa gegen zwölf Uhr der Nacht sein: »Felliser Josi, Felliser Josi!»
Ich sprang an's Fenster und rief hinunter: Wer da? — Gut Frind — war die Antwort. Komm geschwind — fürchte dich nicht — dir soll nichts geschehen — die Sache hat Eile — so rief eine sanfte Stimme, die mir alle Furcht benahm. Es war aber so finster und regnerisch, dass ich niemanden sehen konnte. Ich versprach eilendes zu kommen. Wie ich zur Haustüre hinaustrat, da sass eine Person, wie mir schien, eine Frau dicht im Mantel gehüllt, zu Pferde: Und was ist euer Begehren? fragte ich — Mich zu begleiten — war die Antwort — Und wohin? — fragte ich wieder — Zum Gastmahl um Mitternacht. — Aber wir haben Eile, fürchte dich nicht — und folge mir — sprach sie. — Eine so vornehme Frau, dachte ich, wird mir doch nichts zuleid tun, ich folgte ihr daher nach ohne Furcht. Es war finster und neblig, dass ich die Reiterin nur wie im Schatten sah; das Pferd trat so leise auf, dass ich es kaum hörte — und mir unheimlich und geisterartig vorkam, dass ich kein Wort zu sprechen wagte — dennoch folgte ich ihr ohne Furcht nach. Der Weg kam mir unbekannt vor; wir langten endlich vor einem grossen Hause an, in dessen Hofe es von Pferden, Kutschen, Wagen und Bedienten wimmelte. Meine Reiterin wurde vom Pferde genommen, ein Bedienter ging voran und sie winkte mir, ihr zu folgen. In den unteren Räumen und Gängen des grossen Hauses war es dunkel und stille; höher hinauf aber waren Gänge und Treppen taghell beleuchtet, uns wallte ein lieblicher Ambraduft aus dem Speisesaal entgegen. Ein Geräusch vieler Stimmen und das Klingen der Gläser und Gerassel der silbernen Tischmöbel tönte aus der halbgeöffneten Türe des Salons. — Auch diese flog auf — und umstrahlt vom Sonnenglanz der schwebenden kristallenen Leuchter sass an reichbesetzter Tafel die glänzendste Gesellschaft. Fast unbemerkt von den Gästen schloss sich meine Begleiterin zuunterst an die Gesellschaft und ich setzte mich auf ihren Wink neben sie. Ich war stumm vor Erstaunen über das was ich da Prächtiges sah und hörte, obwohl ich ihre Sprache nicht verstand. Ich vermag es nicht zu beschreiben, so gern ich wollte, sagte mir der Felliser Josi; denke dir einen geräumigen hohen Saal, ringsum mit ehrwürdigen Ahnenbildern und prächtigen in Goldrahmen gefassten Tableaux und Spiegeln ausgeschmückt; die brennenden Farben der Teppiche und Tapeten, die künstlichen Blumen in zierlichen Vasen, das goldene und silberne Tischgerät; endlich die Gesellschaft selbst im vollen Kostüme, schwarz und weiss gemischt — Alles liess mich auf den hohen Stand und guten Ton des Gastgebers schliessen. Zuoberst an der Tafel schien mir der Urahnherr zu sein. Sein dunkles aber freundliches Auge lief unter den langen, schwarzen Wimpern rastlos im Kreise der Gäste umher, gleichsam um die Gesichter der Anwesenden zu mustern — mit einem Wort, er war die Seele des Ganzen. Eine lange Reihe edler ritterlicher Gestalten, aus deren teils heitern, teils finstern Stirnen, rabenschwarze Augen brannten. Unter ihren langen Bärten hingen schwere Goldketten auf die Brust herab. Auch geistliche Würdigkeiten waren darunter. Gleich lieblich gefärbten Blumen, tauchten inzwischen die mit Gold und Diamanten geschmückten Gestalten schöner Frauen und lieblicher Töchter hervor. Die vornehmen Herren schwenken mächtige Pokale und tranken mit den hübschen Frauen Gruss und Bruderschaft. Auf leichten Schwingen schwirrte das Gespräch um die Tafel. Die feinen Weine machten die Scherze der Männer mutwilliger und ihre Blicke kühner auf die reizenden Nachbarinnen. Gewürzt von dem lispelnden Gespräch und schalkhaften Lächeln der Frauen, schien der Rebensaft ihnen noch einmal so gut zu munden, und sie noch mehr zu begeistern. Endlich rauschte die Rede in fessellosen Strömen dahin. Toaste folgten auf Toaste — da öffneten sich auf einmal die Flügelpforten des Festsaales — und herein trugen die Diener eine grosse Kiste. Diese wurde geöffnet und ein grosses Paket von Pergamentrollen entwickelt. Ein in der Nähe des Urahnherrn stehender Perückenherr, ohne Zweifel der Sekretär, fing auf ein gegebenes Zeichen, das allgemeines Stillschweigen gebot, an, laut und lange aus diesen Rollen vorzulesen. Weil mir dies langweilig vorkam, da ich nichts davon verstand, so nahm ich mir ein Herz, meine schöne Begleiterin leise zu fragen, was man da vorlese. Ebenso leise erwiderte sie, das sei die Familienchronik, welche alle fünfzig Jahre, der ganzen edlen Familie, hier um Mitternacht, müsse vorgelesen werden, bis einer aus den Nachkommen den Mut habe, ein Andenken der Dankbarkeit seinen Ahnen zu errichten, nämlich die tatenreiche Geschichte dieser edlen Familie zu verfassen und in Druck herauszugeben.
Aber in Gottes Namen, fragte ich wieder, ist denn unter so vielen Gelehrten dieses Hauses gar niemand, der es wagte, eine gewiss höchst interessante Familienchronik zu schreiben und publizieren? Sie schüttelte verdriesslich den Kopf und sagte: Bisher noch nicht. — Da rauschte ein gewaltiger Sturm draussen durch die Wipfel der Bäume; grosse Regentropfen klirrten an den Fenstern. Was ist das? fragte ich. Sie erwiderte erbleichend und mit ihr schien die ganze Gesellschaft stiller und blasser zu werden: Unsere Post kommt, wir müssen bald verreisen. — Aber, sagte ich der schönen und bleichen Nachbarin: Das ist doch undankbar, so gleichgültig gegen die verdienstvollen Ahnen und Voreltern zu sein. — Indem ich dies sagte, und sie mich mit bedeutungsvollem Blickeanschaute, dass ich schweigen solle, erschreckte mich abermals ein fürchterlicher Windstoss — die ganze Gesellschaft wurde jetzt geisterbleich. — Da schlug ein gewaltiger Stoss des draussen rauschenden Sturms ein Fenster auf und löschte alle Lichter aus. Alle Kostbarkeiten auf dem Tische und rings im herrlichen Speisesaal, wurden von unsichtbarer Hand im Augenblick entfernt. Es entstand ein Getöse, dass mir Sehen und Hören verging. Unzählige Tritte bewegten sich im Saal und Hause, Abschiedsküsse klatschten, Seidenkleider rauschten, Schwerter und Sporen klirrten, Pferde wieherten, Wagen und Kutschen raffelten und donnerten davon.
Ich hörte drei Uhr schlagen — was später mit mir geschah, weiss ich nicht — nur das weiss ich, dass ich am Morgen angekleidet und mit Regen durchnässten Kleidern auf meinem Bette erwachte — und das überzeugt mich, dass ich nicht träumte, sondern persönlich gegenwärtig war beim — Gastmahl um Mitternacht.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch